Ein inspirierender, historischer Roman über die Stärke der Frauen

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laura s. l. Avatar

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In ihrem Buch „Unter den Linden 6“ beschreibt Ann-Sophie Kaiser die Geschichte der drei Frauen Hedwig, Lise und Anni ab 1907. Lise kommt voller Hoffnung als promovierte Physikerin nach Berlin, um bei Professor Planck zu studieren. Das Dienstmädchen Anni tritt verschüchtert und traumatisiert gezwungenermaßen eine neue Stelle nahe der Großstadt an. Hedwig will die Abwesenheit ihres kranken Mannes nutzen, um ein Semester heimlich an der Universität Berlins zu studieren. Durch Zufall kreuzen sich schon bei Lises und Annis Ankunft die Wege der drei Frauen, die sich bei allen folgenden frustrierenden Hürden, Schicksalsschlägen und Liebesfragen unterstützend zur Seite stehen. In der zweiten Hälfte findet ein Zeitsprung ins Jahr 1912 statt. Das Buch endet mit den ersten Geschehnissen des Ersten Weltkrieges.

Die Geschichte wird abwechseln aus den Perspektiven der drei Frauen geschildert. Die Lise, Anni und Hedwig sind sehr verschieden und doch geeint in dem Wunsch, die Grenzen, die ihre Zeit den Frauen auferlegt, zu durchbrechen und Bildung sowie Anerkennung zu erlangen. Durch die wechselnde Erzählperspektive bekommt der/die Lesende einen interessanten Einblick in drei verschiedene Arten des Umgangs mit der Frustration bei Rückschlägen und des Aufbegehrens. Nebenfiguren zeigen zusätzlich radikalere und gemäßigtere Ansätze. Mir hat das breite Spektrum an dargestellten Vorgehensweisen und Sichtweisen zur Emanzipationsbewegung sehr gefallen. Im historischen Kontext eingebettet werden aber auch die männlichen Figuren keineswegs eindimensional, sondern erhalten Tiefgang und eigene Meinungen. Besonders beeindruckt haben mich zwei Unterhaltungen, die die drei Freundinnen einmal etwa in der Mitte und relativ zum Schluss führen. Die Frauen beraten sich hierbei darüber, wie sie als emanzipierte Frauen glücklich sein bzw. auch sich selbst im Weg stehen können. Hierbei fallen vor allem vom Dienstmädchen Anni sehr weise Sätze, die sich mir als Zitate eingeprägt haben.

Die Liebesgeschichten der Frauen standen sicher bewusst nicht im Mittelpunkt der Geschichte. Als Liebhaberin von Liebesromanen hätte ich selbst mir zwar noch ein wenig mehr Liebesdynamik und Romantik gewünscht, ich verstehe aber vollkommenen, dass das dem Fokus dieses Werkes in den Augen vieler anderer nicht gerecht geworden wäre. Die Autorin wählt, meiner Meinung nach, einen klugen Mittelweg bei der Behandlung von Liebe in ihrem emanzipatorischen Frauen-Roman, der schließlich auch mich zufriedengestellt hat.

Das Ende des Romans zu Beginn des Ersten Weltkrieges hat mir persönlich nicht ganz so gut gefallen wie der Rest. Im Nachwort, das für mich wiederum ein wunderbarer Abschluss mit interessanten historischen Erläuterungen ist, erwähnt die Autorin, dass hier ein positives hoffnungsvolles Bild für die Stellung der Frau vorherrscht, als die Frauen im Krieg die vakanten Stellen ihrer Männer übernehmen und mehr Studentinnen immatrikuliert waren. Ich fand zwar den Bruch mit allem davor und die Verschiebung der Prioritäten interessant, hätte mir aber zum Abschluss noch einen Zeitsprung zur Nachkriegszeit und der Habilitationsmöglichkeit für Frauen gewünscht.

Alles in allem hat mich der Roman auf mehr als eine Weise inspiriert. Mir wurde wieder vor Augen geführt, dass Bildung und einfache Karrierewege nicht selbstverständlich, sondern hart erkämpft sind. Auch die Freude und der Wissensdurst über neue Fachgebiete empfand ich als ansteckend. Die starke Freundschaft und Solidarität der drei unterschiedlichen Frauen haben mich nicht zuletzt nachhaltig berührt. Das Buch ist meiner Meinung nach sehr inspirierend und absolut empfehlenswert!