Wie geht man mit seiner eigenen Vergangenheit um?

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frischelandluft Avatar

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Wann beginnt Schuld? Gibt es Unschuld? Kann man sich von seinem eigenen jüngeren Selbst distanzieren? Auf mehreren zeitlichen Erzählebenen erzählt die Protagonistin im Rückblick von ihrer Jugend, in der sie in die rechts-radikale Szene gerutscht ist. Ich war gespannt zu lesen, wie sie damals radikalisiert wurde und gleichzeitig, wie sie sich 15 Jahre später im Rückblick sieht. Man merkt die Diskrepanz zwischen ihrem jüngeren und ihrem älteren Selbst, die Essenz des Romans liegt für mich in dieser Spannung. Wie geht sie als ältere (immer noch junge) Frau mit ihrer ruhmlosen Vergangenheit um, hier passiert ein Wandel. Der erste Wandel 15 Jahre zuvor von der einsamen, etwas außenstehenden Jugendlichen, die eine Gemeinschaft unter Rechten findet, ist für mich etwas zu kurz gekommen; sie gerät mir zu naiv und unreflektiert in die Szene und wenn es so ist, dann fehlt mir die Auseinandersetzung der Erzählerin heute mit ihrem Selbst von damals. Vom Klappentext hatte ich erwartet, dass ich mehr über ihre Radikalisierung erfahre. Gelungen finde ich die Darstellung des Landlebens, der Dorfgemeinschaft, des Vereinswesens, die gleichzeitige Einmischung in die Angelegenheiten anderer und das Heraushalten aus allem, was unbequem wird, die eingeschränkten Möglichkeiten, eigene Wege zu gehen, wenn man nirgendwo dazugehört.
Insgesamt bin ich etwas zwiegespalten bezüglich des Romans. Ich finde die Thematik aktuell und sehr wichtig, der Roman liest sich flüssig, mir gefallen die unterschiedlichen Erzählebenen, aber mir fehlt eine tiefere Auseinandersetzung mit den Beweggründen für die Radikalisierung und Reaktionen der Protagonistin auf die Aktionen ihrer neuen rechten Freunde, sowohl damals als auch heute. Die Auflösung des Familiengeheimnisses finde ich unbefriedigend – soll man es als Grund für ihre Radikalisierung lesen oder als Grund, sich zu distanzieren? Auch hier fehlt mir die Greifbarkeit. Insgesamt ein interessantes Debut mit einem guten Thema und einer guten Idee. Ich gebe das Buch meiner 17jährigen Tochter, um zu sehen, was sie sagt. Vielleicht habe ich zu viel erwartet, ein bisschen getriggert durch die Ähnlichkeit des Titels mit „Über Menschen“ von Juli Zeh. Aber es wird eine gute Grundlage für ein Gespräch mit ihr.