Die Protagonistin macht‘s

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aennie Avatar

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Nora Watts erhält einen merkwürdigen Anruf. Sie fragt sich, woher diese Menschen sie kennen können, woher sie überhaupt wissen, dass sie Menschen aufspürt, denn eigentlich tut sie das im Verborgenen, so wie sie ihr gesamtes Leben eigentlich eher auf der unsichtbaren Seite Vancouvers, in dunklen Gassen, in ihrer Kellerwohnung, in der Nacht, gestaltet. Beim ersten Treffen wird der Anknüpfungspunkt klar: das verschwundene Mädchen ist ihre Tochter, ihre Adoptiveltern haben sie nun verzweifelt angerufen, um herauszufinden, ob Bonnie ihre leibliche Mutter kontaktiert hat. Nora ist geschockt, sofort ist sie zurückversetzt in die traumatisierenden Umstände um Bonnies Zeugung und Geburt, ihre tief vergrabene Vergangenheit.
Aber natürlich lässt sie das Thema nicht los, und plötzlich tauchen weitere Geister der Vergangenheit einer nach dem anderen auf, ihre Ermittlungen gehen plötzlich in eine ganz andere Richtung, in viel größere wirtschaftliche und kriminelle Dimensionen als zunächst gedacht. Schnell ist klar, dass Bonnie nicht abgehauen ist, nicht mit ihrem Freund verschwand, nicht versucht hat, Nora endlich zu finden. Aber nun setzt Nora alles daran ihre Tochter zu finden, doch zunächst muss sie herausfinden, wem sie überhaupt trauen kann und da sie das eigentlich niemandem tut, außer ihrer Hündin Whisper, wird das ein mühsames und gefährliches Unterfangen, denn ihr Treiben bleibt nicht unbemerkt.

Untiefen von Sheena Kamal ist kein typischer Thriller. Viel wichtiger – in meinen Augen – und der entscheidende Aspekt dieses Buch zu bewerten, ist für mich die Protagonistin Nora Watts. In der Handlung selbst macht man auch die ein oder andere logische Schwäche aus, es ist auch nicht durchweg unglaublich spannend, doch die Autorin hat es geschafft, einen Charakter zu schaffen, mit einer Vergangenheit, mit sehr vielen Schwächen, einigen Stärken, vielen vielen Problemen mit sich selbst und mit der Umwelt. Das Leben war einfach nicht nett zu ihr, noch nie, nichts passt so gut auf sie wie „life is a b*tch“, einfach in allen Facetten. Sie ist zutiefst misanthropisch, depressiv, Alkoholikerin, zunächst trocken, dann nicht so sehr, aggressiv, selbstzerstörerisch, eigenbrötlerisch. Und sicherlich sehr intelligent, zielstrebig, „hart im Nehmen und ohne Rücksicht auf Verluste handelnd“. Ihre ganze Familiengeschichte ist ein Drama in drei Generationen, das zeigt, wie belastend es für Menschen sein muss, die eigene Herkunft für sich selbst nicht klären zu können. Das beginnt mit Noras Vater und setzt sich in Noras Tochter fort.
Sehr interessant fand ich hingegen hier den gewählten Erzählstil der Autorin. Die Geschichte wird von Nora aus der Ich-Perspektive erzählt, wobei sie den Leser immer wieder direkt anspricht („verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe xy getan, weil…“), so dass ein sehr persönliches Gefühl der Adressierung entsteht. Nora Watts ist keine Romanfigur, in die man sich leicht hineinversetzen kann oder mit der man sich überhaupt identifizieren möchte als Leser, aber Sheena Kamal gelingt es, dass man als Leser begreifen und nachvollziehen kann, warum sie so ist wie sie und wie sie handelt, ohne, dass man das jetzt besonders gut finden muss. Aber das Buch kann man dadurch als Ganzes sehr wohl ziemlich gut finden.