Sprachzauber

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
cara_11 Avatar

Von

Nach der Leseprobe war ich sehr skeptisch, ob mich dieses Buch von Paolo Coelho so fesseln kann wie seine früheren Werke - zu wenig nachvollziehbar schien mir die Problematik der Protagonistin Linda. Zudem waren mir anfangs, in der Leseprobe, die Figuren zu seicht, zu monoton beschrieben, ich konnte mich nicht in die Personen hineinfühlen, was wohl aber zum Teil auch beabsichtigt war, um die Gefühlsstimmung der Protagonisten wiederzugeben.
Doch die wunderbare Sprache, in der die Gedanken des Buches über Gefühle, Liebe, Vertrauen, Gott, den Sinn des Lebens verfasst sind, hat mich schnell über die eigentlich Geschichte hinwegblicken lassen und ich verlor mich wieder auf der Suche nach Wortschätzen in diesem neuen Werk von P.C.

Die Story: Linda, Anfang 30, verheiratet (mit einem sehr tolerant wirkenden Partner), 2 gesunde Kinder, ohne offensichtliche Probleme, versucht nach einem kritischen Kommentar eines Interviewpartners über den "Sinn des Lebens" den Sinn in ihrem eigenen Leben zu finden und stürzt, erschrocken über die Monotonie und Bedeutungslosigkeit ihres Lebens, in eine Sinnkrise, fast schon Depression, wobei Linda der Verzweiflung nur unter der Dusche, "wo niemand die Tränen sieht", nachgibt. In dieser Stimmung begegnet Linda einer ehemaligen Jugendliebe wieder, einem mittlerweile bekannten und mächtigen Mann, der Interesse an ihr zeigt und so bei ihr Gefühle weckt, die sie anfangs für wahre Liebe hält. Gefühlsverwirrt, verzweifelt und angestrengt, ihr Leben ereignisreich zu gestalten, stürzt sich Linda in eine Affäre mit diesem Mann und akzeptiert dabei auch, obwohl von ihrer Seite anfangs eher romantische und zärtliche Gefühle vorherrschen, zum Teil erniedrigende Sexualtechniken und Machtdemonstrationen. Linda arrangiert sich mit einer kaltschnäuzigen Professionalität in der Affäre, hat jedoch ihrer Familie gegenüber ein schlechtes Gewissen (was aus meiner Sicht aber auch eine gewisse Rettungsleine zum "normalen" Leben darstellt). Linda gerät schon beinahe in eine Art Hörigkeit, der Höhepunkt ihrer Realitätsverweigerung scheint erreicht, als sie Drogen besorgt, die sie der Frau ihres Geliebten unterschieben möchte, um diese so zu diskreditieren und darüber nachdenkt, mit ihrem Geliebten durchzubrennen. Wobei die Stimmungsschwankungen auch durch die Affäre nicht kuriert werden, eher wird Lindas Zustand verschlimmert, sie nimmt zeitweise auch schon Tabletten.
Als Linda auf eine scheinbar harmlose Frage bei einem gemeinsamen Abendessen der beiden Paare mit der Frau ihres Geliebten einen Streit vom Zaun bricht, in dem sie beinahe die Affäre gesteht, erklärt der Liebhaber per SMS die Beziehung für aufgedeckt und damit beendet. Linda stürzt in ein Gefühlschaos, erkennt nach einem gewissen Schock aber auch, dass nicht Liebe, sondern nur der Wunsch nach Veränderung die Affäre ausgelöst hat und will ihrem Mann alles gestehen. Die Beichte findet jedoch nicht statt, da Linda's Mann offenbar schon etwas ahnt und die Wahrheit nicht unbedingt hören muss - er zeigt ihr in diesem Gespräch, dass sie sehr wichtig für ihn ist, und egal was sie getan hat, er will sie nicht verlieren. Linda erkennt ihre wahren GEfühle wieder besser und setzt daher auch einen Schlussstrich unter die Affäre, auch wenn sie dazu noch einmal ihren Liebhaber trifft und auch intim mit ihm wird (was ich nicht nachvollziehen konnte) - aber dieses Mal hat sie zum ersten Mal die Macht in diesem Spiel. Das Buch endet mit einem Wochenende von Linda und ihrem Mann in Interlaken, dem Ort, wo sie ihren ersten Urlaub verbracht haben. Sie erkennen, dass man vergangene Erlebnisse nicht einfach wieder aufleben lassen kann.
Bei einem Paragliding-Flug hat Linda aber eine wunderbare Erfahrung von Freiheit - was sie durch die tolle Schilderung auch auf den Leser überträgt....... die Dämonen der Traurigkeit, der Angst, der Depression, die Zweifel scheinen besiegt, selbst der Leser hat in diesem Moment das Gefühl, von einer großen Last befreit worden zu sein.

Trotz allem Unverständnis über die "Luxusprobleme" der Protagonistin und meinem Erstaunen, weshalb ein doch so junger Mensch, der schon so viel erlebt hat in seinem Leben und so viel Positives jeden Tag erfährt (ein Chef, der jeden zweiten Tag ein großes Lob ausspricht etc.) in eine so depressive Stimmung fallen kann, hat mich das Buch aufgrund der geschliffenen Sprache und der tollen Zitate (würde ich alles anzeichnen wäre das halbe Buch markiert) tief beeindruckt. Und auch sensibler gemacht für die Stimmungen der Menschen in meiner Umgebung.


I