Schmerzhaft dringendes Buch!

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jennyrosalesen Avatar

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„Kranke Frauen werden diskriminiert, jede auf ihre Art.“

Ausgehend von dem überhörten Schmerz ihrer eigenen Großmutter widmet Eva Biringer in „Unversehrt“ sich mit einem feministischen Blick den Dimensionen von weiblichem Schmerz und ihrer Verortung in patriarchalen Strukturen. Das hier ist kein Wohlfühlthema, die Lektüre entsprechend anstrengend und schmerzvoll, aber definitiv lohnenswert!

“Frauen empfinden Schmerzen. Männer auch, allerdings nicht auf die gleiche Art. […] Liegt es daran, dass sie auf andere Art leiden oder das Leben andere Arten von Schmerz für sie bereithält?“

Die Antwort ist kompliziert! Denn Schmerz ist nicht objektiv messbar, hat sowohl körperliche als auch seelische Dimensionen. Weiblicher Schmerz wird gleichzeitig ästhetisiert, begehrt und als naturgegeben betrachtet, verleugnet, ignoriert, schlimmstenfalls verstärkt. Spezifisch weibliche Leiden werden kaum erforscht oder ernsthaft versucht zu beheben, stattdessen sollen Frauen aushalten, unterdrücken oder betäuben, gerne auch mit teuren Mittelchen. Beim Arzt werden sie nicht ernst genommen, sie seien hysterisch und empfindlich, ihr Leiden sei psychosomatisch, nur in ihrem Kopf oder ihrer Gebärmutter. Tatsächlich müssen Frauen mehr und spezifische Schmerz aushalten, die mit ihrem biologischen Geschlecht zu tun haben: Schwangerschaft und Geburt, PM(D)S, Endometriose, Gebärmutterhalskrebs etc. Dazu kommt der Schmerz, den Frauen sich selbst zufügen, Scham- und Schuldgefühle und all die Schmerzen, die das Patriarchat ihnen alltäglich seit Jahrhunderten bereitet… yeah, it’s a lot!

Zugleich Schwäche und Stärke des Buches ist der Umfang an Infos und Beispielen. Man kann deutlich lesen, welche breite sorgfältige Recherche Biringer hier gemacht hat, wie wichtig ihr ist, ihr Wissen zu teilen und ihrer Wut Raum zu machen. Was es dem Buch leider mangelt ist eine klare Strukturierung, ein roter Faden oder eine klare These. Infos sind zerstückelt, was an der einen Stelle fehlt, wiederholt sich an der anderen. Zusammenhänge und Argumentationsgänge sind nicht immer klar erkennbar, was das Lesen stellenweise anstrengend macht.

Biringers Ton ist wütend, überwiegend sachlich und klar, manchmal zynisch, bespickt mit Witz und Wortspielen, die mal mehr oder weniger angebracht sind. Die Binarität ist der Datenlage zu schulden, andere Aspekte der Diskriminierung wie Klasse und race kommen vor, aber die Seitenzahl ist eben leider begrenzt…

„Unversehrt“ ist trotz kleiner formaler Schwächen eine bedeutsame feminisitische Lektüre. Eva Biringer liefert hier einen umfangreichen und aktuellen Überblick zu weiblichem Schmerz und regt zur weiteren Auseinandersetzung damit an, theoretisch und praktisch oder in den Worten der Autorin: „Reclaim the Pain. Werdet laut, werdet wütend!“