Über Deutschwerden, Rassismus und Mannsein

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
alasca Avatar

Von

Arda, Mitte Zwanzig, leidet unter einer tödlichen Autoimmunerkrankung und wartet im Krankenhaus auf das Ergebnis des ultimativ letzten Behandlungsversuchs. Währenddessen schreibt er einen fiktiven Brief an seinen Vater, der die Familie vor langer Zeit verlassen und in der Türkei eine neue Familie gegründet hat. Arda erzählt vom Aufwachsen in einer Sozialsiedlung im Ruhrgebiet, von Armut, Ausgrenzung, Rassismus und Ausgeliefertsein. Und davon, dass Vaterlosigkeit auch befreiend sein kann.

"Ich hab mich nicht nur glücklich geschätzt, sondern ich war sogar stolz darauf, ausschließlich von Frauen großgezogen worden zu sein.“ Denn: "Wäre ich bei dir aufgewachsen, hätte ich genau zwei Möglichkeiten gehabt", schreibt er an seinen Vater, "Nachahmung oder Abgrenzung. Du wärst der Maßstab gewesen, an dem ich und alle anderen mich gemessen hätten, und vermutlich wäre ich dann nie ich geworden, sondern würde jetzt irgendeine Ingenieursscheiße studieren, würde in Fußballtrikot und Sonnenbrille in tiefergelegten Autos flexen".

Auch die alkoholkranke Mutter Ümran und die große Schwester bekommen eine Stimme. Die Sicht der Frauen nimmt großen Raum ein in diesem Roman, der qua Titel den Vater zum Thema hat. Klar wird, dass Ümran nicht etwa unglücklich ist, weil ihr Mann sie verlassen hat, sondern weil absolut jedes Glücksversprechen in ihrem Leben unerfüllt blieb, seitdem sie aus ihrem vom Erdbeben zerstörten Heimatdorf nach Deutschland ging.

Ardas Briefe an den Vater sind nicht nur Abrechnung mit einem türkischen Macho, sondern entstehen auch aus der Hoffnung, ihm verzeihen zu können. Metin, „Held einer gescheiterten Revolution“, von Beruf Architekt und als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen, konnte sein Leben als Gastarbeiter und den erniedrigenden Job im Schlachthof nicht mehr ertragen.

Halt geben Arda seine Freunde, aus migrantischen Familien wie er, nachdem auch seine Schwester abgehauen und er mit seiner innerlich abwesenden Mutter allein zurückgeblieben ist. Gemeinsam ist der allgegenwärtige Rassismus besser zu ertragen. "In der Schule nennen sie mich Asylanten-Arda und Savaş nennen sie einfach nur Sucuk. Sie rufen, dass wir stinken und behaupten, wir wohnen im Müll. Sie fragen, warum wir hässlich sind, obwohl Döner schöner macht. Sie erzählen, wir hätten Läuse und weigern sich uns zu berühren. Das einzige Gute an unseren Mitschülern ist, dass sie Savaş und mich zwingen, immer ein Team zu sein.“

Auch über die Ohnmacht gegenüber den Behörden schreibt er, die seinen Aufenthaltsstatus immer wieder bestätigen müssen, obwohl Arda in Deutschland geboren wurde; die Familie verbringt absurd viele Tage wartend in Amtsfluren. Als Arda volljährig ist und die Einbürgerung beantragen kann, macht er sich Luft ausgerechnet in dem Text, den er zum Beweis seiner Deutschkenntnisse liefern muss:

„Ich werde eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von eurem Benz und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.“

Aber auch nach Erhalt eines deutschen Passes gehört Arda nicht wirklich dazu: „Aber dann fallen mir … [die] Worte [meines Sachbearbeiters] wieder ein. Dass, wer eingebürgert wurde, auch wieder ausgebürgert werden kann. Scheiß drauf, denke ich. Das ist doch genau, was die wollen. Dass man sich nie zu sicher fühlt.“
Öziri ist jederzeit ganz nah dran an seinen Figuren. Seine Sprache hat einen ganz eigenen Sound und vollbringt das Kunststück, völlig hinter dem Gefühl zurückzutreten, das sie vermittelt – und das ist vor allem der Schmerz, der daraus entsteht, nirgendwo dazu zu gehören. Der Gedanke drängt sich auf, dass Ardas Erkrankung aus somatisiertem Schmerz entstanden ist.

Ein sehr lesbarer, vielschichtiger und intensiver Roman mit hohem Erkenntnisgewinn.