Erschreckend real

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daniliesing Avatar

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Anfangs war ich etwas skeptisch: Kann eine Sammlung von Verbrechen in Buchform wirklich interessant sein und überzeugen? Schafft es der Autor den nötigen Abstand zu den Fällen zu halten? Ja, er schafft es und es ist äußerst spannend.

In dieser Leseprobe beschreibt Ferdinand von Schirach den ersten Fall seines Buches "Verbrechen". Ganz behutsam entwickelt er die Geschichte - nach und nach wird dem Leser die Zwieckmühle, in der der Protagonist Fähner steckt, bewusst. Das Besondere daran ist, dass von Schirach nicht in Sentimentalität abrutscht und die ganze Situation sehr nüchtern betrachtet. Er verurteilt nicht, klagt nicht an; vielmehr lässt er den Leser seine eigene Meinung zum Fall finden. Genau deshalb fühlt man sich als Leser noch mehr von dieser Geschichte angesprochen.

Fähner hat seiner Frau geschworen, sie nie zu verlassen. Etwa 50 Jahre hält er es mit ihr aus. Denn schon schnell wird aus der anfangs schönen Beziehung ein Horror für ihn. Unter ständigen Demütigungen und Anschuldigungen zieht er sich mehr und mehr zurück und findet nur in seinem Beruf als Arzt Abstand. Er ist allseits beliebt und geschätzt. Umso mehr überrascht das Ende dieses Falls. Fähner erträgt die Situation nicht mehr und zerstückelt seine Frau mit einer Axt. Die Strafe, die er dafür bekommt, fällt sehr milde aus.

Der Leser wird in einen Zwiespalt getrieben - man versteht, dass die Situation für Fähner unerträglich ist, andererseits bleibt unverständlich, weshalb er sich nie scheiden lassen hat. Heute wird es für die meisten Menschen ungewöhnlich klingen, dass sich jemand derart fest an einen Schwur hält und deshalb zu solchen Maßnahmen greift. Und doch war es Fähners Einstellung und entsprach mehr seinem Rechtsempfinden als eine Scheidung.

Die Leseprobe regt sehr zum Nachdenken an. Alles sträubt sich dagegen, Fähner Verständnis entgegen zu bringen und doch bleibt eine kleine Unsicherheit vorhanden. Dennoch gab es Alternativen und so ist es nach wie vor ein erschreckender Fall.

 

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