Verbrechen und Strafe

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sabatayn76 Avatar

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Ferdinand von Schirach ist Anwalt und Strafverteidiger und hat mit "Verbrechen" Stories über Verbrechen, Strafe und Schuld vorgelegt.

Die Leseprobe erzählt von Friedhelm Fähner, der ein "ganz normaler" Mitbürger ist: praktischer Arzt, sozial engagiert, kulturell interessiert, wohlhabend, beliebt. Fähner verliebt sich in Ingrid, die wenig ehrgeizig und eher ungebildet ist, ihn jedoch sexuell erfüllen kann. Sie heiraten sehr schnell, und Fähner verspricht, dass er sie nie verlassen wird. Ingrid entpuppt sich schließlich als Tyrannin, die ihm nichts gönnt, undankbar ist, ihn in allem kritisiert, keinerlei Respekt vor seinen Interessen, seinem Geschmack oder seinen Gefühlen hat. Fähner verleugnet eigene Wünsche und Bedürfnisse, fügt sich seinem Schicksal und lässt sich von Ingrid erniedrigen. Es kommt, wie es kommen muss: Im stolzen Alter von 72 Jahren brennt Fähners Sicherung durch, und er tötet und zerhackt Ingrid.

Ferdinand von Schirach schildert den Fall in eindrücklicher und fesselnder Weise. Am Ende der Fähner-Geschichte beschreibt der Autor, wie die Strafe bemessen, warum welche Entscheidung getroffen wurde. Hierdurch bekommt man Einblicke ins Strafsystem, in die Bedeutung individueller Anamnese und psychiatrischer Urteile.

Die Leseprobe erinnert mich sehr an die populärwissenschaftlichen Bücher von Andreas Marneros. Marneros beschreibt dort Phänomene wie Rechtsextremismus, Kindesmissbrauch und sexuelle Paraphilien allgemeinverständlich in Form von Fallgeschichten und erklärt nebenbei, wie Schuldunfähigkeit bemessen wird und in die Verurteilung von Straftätern einfließt. So können Inhalte auch für Nicht-Fachleute verständlich und interessant erläutert werden.

Als Psychologin interessiert mich die Thematik des Verbrechens sehr. Ich glaube daran: Jeder Täter ist ein Opfer seiner eigenen Lebensgeschichte. Dieser Blickwinkel rechtfertigt keine Gewalttat und erwartet keine Akzeptanz von Straftaten, sondern zielt darauf ab, Beweggründe zu verstehen, persönliche Schicksale in ein Urteil einzubeziehen. Es gibt nicht nur gut und böse, schwarz und weiß. Psychologie ist vielschichtiger und komplexer. Das Buch könnte dabei helfen, anderen Menschen diese Sicht der Dinge deutlich zu machen und sie Gewalt als Reaktion und nicht nur als blinde Aktion verstehen zu lassen.

Aus psychologischer Sicht ist das Buch somit beinahe Pflicht. Andererseits stellt sich mir die Frage, ob der Autor etwas Neues einbringen kann, ob auch die restlichen Fallgeschichten schlüssig aufbereitet wurden, ob man einen Erkenntnisgewinn verzeichnen kann. Ob es sich nur um einen Marneros-Verschnitt handelt, kann ich nach nur einer Geschichte nicht beantworten, dafür bedarf es weiterer Lektüre. Die erste Geschichte ist auf jeden Fall vielversprechend.