Geschichten, die das Leben schrieb

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Das Buch berührt und ich spüre immer noch Tränen in meinen Augen brennen. Manche Geschichten sind so unglaublich, dass man fassungslos den Kopf schüttelt. Zwei Geschichten haben mich besonders berührt: “Das Chello” und “Der Äthiopier”.
Verbrechen aus Leidenschaft - das ist ein Schlagwort, dem man einfach nichts abgewinnen kann, wenn man nie selbst in einer Situation war, in der man selbst so einen Schritt gewagt hat.  Gerade bei “Chello”, “Fähner” und “Der Ätiopier” kann ich es mir aber persönlich sehr gut vorstellen. In der Geschichte um Fähner war es jahrelange seelische Qual durch die Ehefrau und da sich der Mann an sein Versprechen hielt, in dem er seine Frau nie verließ, leidete er still vor sich hin. Bis zu dem Tag, an dem er einfach nicht mehr konnte und dennoch sprach er vor dem Gericht davon, dass er seine Frau doch liebe.

Bei der Geschichte mit dem Chello war es eine Sache zwischen Bruder und Schwester. Unzertrennliche Geschwister, die alles miteinander teilten und durchlebten. Dumme Bakterien und ein Motorrad-Unfall zerstörte das Leben der beiden. Der Bruder kam gerade noch mit dem Leben davon… aber was für ein Leben! Ein Dahinvegetieren. Doch die Schwester nahm das Opfer auf sich - jahrelang. Bis auch sie an den Rand ihres Leidens stieß. Aus Liebe und Mitleid ertrug sie die Qualen ihres Bruders nicht mehr, besorgte sich Barbiturate, mischte sie unter das Essen des Bruders und als dieser müde wurde, ließ sie ein Bad ein, legte sich gemeinsam (wie sie es als Kinder auch getan hatten) mit ihn ins warme Wasser und als er einschlief, tauchte sie ihn unter die Wasseroberfläche.
Da ich eine schwerst behinderte Tochter hatte, verstehe ich gerade diesen Fall besonders  gut, aber dennoch frage ich mich, ob das wirklich der letzte Ausweg war. Meine Tochter brauchte mich 14 Jahre lang, dann schlief sie einfach hinüber. Oft fragte ich  mich, was ich getan hatte, dass ich so ein Schicksal verdiente, aber ertrug es und es machte mich zu dem Menschen, der ich heute bin. Nie, niemals wäre ich auf die Idee gekommen meine Tochter selbst zu erlösen und sie hatte es wirklich nicht leicht, da sie Spastikerin war und am Schluß so lange und schwere Epilepsie-Anfälle hatte, dass sie beinahe jedes Mal in den Zustand des “Grand-mal” gefallen ist. Aber sie deshalb umbringen?

Gerade wenn es um Mord, Totschlag oder ähnliche Delikte geht, verstehe ich nicht, wie man so weit gehen kann. Anders verhält es sich da mit der Geschichte des “Ätiopiers”. Bankraub!!! Der erste, weil man einfach aus dem Leben ausbrechen möchte. Frank Xaver Michalka hat das Geld geraubt und das Land verlassen - schnurstracks und weil er sein Leben in Deutschland nicht mehr ertrug (liest man seine Geschichte, kann man auch verstehen warum). Er flog mit der erstbesten Maschine nach Addis Abeba und war durch seine Lernschwäche in der Schule der Meinung, dass er in Asien landen würde. Doch auch in Äthiopien fand er nur “die Mühlhalde der Welt”, wie er es selbst ausdrückte. Er hatte erneut kein Glück, wollte schließlich seinem Leben ein Ende bereiten und lief einfach drauflos, ohne Ziel, ohne Aussichten. Malaria erwischte ihn, er wurde von Dorfbewohnern gefunden und dort gesund gepflegt. Er wurde dort in diesem Dorf glücklich. Er fand die Liebe, er konnte den Kaffee-Bauern das Leben mit Errungenschaften wie einer Seilbahn, einer Nassanlage und LKW´s erleichtern und sie erzielten die besten Kaffee-Preise. Nach 6 Jahren wurden allerdings die äthiopischen Behörden auf ihn aufmerksam. Er mußte ihn die Hauptstadt, dort wurde er verhaftet und nach Deutschland gebracht - wegen dem Bankraub! Er wurde verurteilt, saß Jahre im Gefängnis und als die Haftbedingungen gelockert wurden, nutzte er die erstbeste Gelegenheit und lief davon - nach Berlin!
Dort fand er einen Fälscher für einen neuen Pass, doch der wollte Geld. Doch woher nehmen? Drei Tage rang er mit sich, dann ein erneuter Bankraub. Grund: er wollte zurück zu seiner Familie in Äthiopien, zu seiner Frau Ayana und seiner Tochter Tiru, zu seinem glücklichen Leben. Wer kann das nicht verstehen?
Doch nach dem Überfall war er so gelähmt, dass er einfach auf dem Rasen vor der Bank sitzen blieb. So wurde er auch erneut festgesetzt. Die Strafe fiel diesmal weit milder aus und die beiden Schöffen legten sogar noch Geld zusammen, damit der Mann nach seiner Haft wieder nach Äthiopien konnte.

Geschichten, die das Leben schrieb!
Ob der Hintergedanke dafür Mitleid, Auswegslosigkeit, der Wunsch nach Glück und Zufriedenheit oder einfach nur der Familiensinn war, sie führten alle dennoch zu Taten, die man nicht mehr rückgängig machen kann. Und teilweise zerstörten diese Taten das eigene Leben, indem sich die Täter entweder selbst umbrachten oder ihr Leben so sehr veränderten, dass sie halt- und ziellos wurden.

Der Schreibstil von Ferdinand von Schirach wirkt kalt, doch vermutlich würde sich eine Gerichtsakte ähnlich lesen. Gefühle für die Schilderungen haben hier nichts verloren. Sie lassen dem Leser selbst entscheiden, ob die Tat berechtigt war oder nicht. Es sind präzise Aufzählungen der Tatsachen und Fakten. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Buch ist daher auch recht schnell und flüssig zu lesen und übertraf wahrlich meine Erwartungen.

Fazit: Ein gutes Buch, welches absolut berührt und Außenstehende in die Leiden und Welten anderer Menschen führt ohne deren Taten aber als berechtigt hinzustellen. Gerne hätte ich noch mehr darüber gelesen!