Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen, aber selten etwas Besseres (G.E. Lessing)

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bookworm53 Avatar

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„Verlassen“ von Eva Björg Ægisdóttir ist der vierte Band dieser Reihe, ein spannender Kriminalroman mit packender isländischer Atmosphäre.
Kurz zum Inhalt:
In einem einsam gelegenen Hotel im Westen Islands versammelt sich die schwerreiche Familie Snaeberg zu einer Geburtstagsfeier. Was auf den ersten Blick nach fröhlichem Beisammensein aussieht, offenbart bei näherem Hinsehen wenig Herzlichkeit und eine Menge Aversionen. Hinter der Fassade brodeln allerlei Heimlichkeiten. Und dann wird plötzlich ein Gast vermisst …

Das Cover mit der in Schwarz-Weiß gehaltenen isländischen Landschaftsdarstellung unterstreicht das mystische Flair dieser Insel mit der einmaligen Lavalandschaft. Stilistisch ist es den Vorgängerbänden angepasst, wodurch sich ein eindeutiger Wiedererkennungswert ergibt. Bei „Verlassen“ handelt es sich um einen Folgeband einer Reihe. Ich hatte als Quereinsteiger nicht das Gefühl, dass mir Vorkenntnisse gefehlt hätten. Es handelt sich um einen eigenständigen Fall.

Die Originalausgabe kam 2021 unter dem Titel „þú sérð mig ekki“ (Du siehst mich nicht) heraus und wurde von Freyja Melsted übersetzt. Die deutsche Fassung erschien 2025 im Verlag Kiepenheuer & Wisch. Die Kapitel sind datiert, wodurch man sich gut chronologisch orientieren kann. Die untergeordneten Abschnitte sind mit Namen übertitelt. Der Schreibstil ist flüssig und gut beschreibend. Als Island-Fan begeisterten mich die Landschaftsbeschreibungen. Die tiefe Dunkelheit, der unwirtliche Schneesturm, die schroffen Klippen und die klirrende Kälte verdeutlichen die unwirtliche Natur Islands, insbesondere im Winter. Geschichten über Elfen und Trolle unterstreichen das Mystische. Eigene Reiseerinnerungen belebten mein Kopfkino – ich besichtigte u.a. die Holzkirche von Búðir und den Strand Djúpalónssandur.

Die Handlung spielt Anfang November 2017, umfasst die Geschehnisse eines Wochenendes. Im Hinblick auf den umfangreichen Personenkreis erweist sich der am Beginn des Buches befindliche Stammbaum der Großfamilie als sehr hilfreich.

Der Handlung ist raffiniert aufgebaut. Obwohl bereits nach wenigen Seiten feststeht, dass eine Leiche am Fuß der Klippen liegt, weiß man bis zuletzt nicht, wer das Opfer ist, bzw. ob es ein Unfall oder Mord war. Insbesondere die Perspektivenwechsel gestalten die Handlung so spannend. Die Protagonisten geraten immer wieder in prekäre Situationen, es gibt unheimliche Szenen. Oft enden die Abschnitte noch dazu mit einem Cliffhanger, wodurch man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen will. Es ist ein stetiges Hin und Her zwischen dem Jetzt – den eher kurz gehaltenen Ermittlungen der Polizei – und den Ereignissen davor, die abwechselnd aus Sicht von vier Personen geschildert werden. Auch der Erzählstil unterscheidet sich. Während die Abschnitte mit den Kriminalkommissaren in der Mitvergangenheit verfasst sind, sind die der Protagonisten im Präsens und in Ich-Form gehalten. Im Mittelpunkt stehen Petra und ihre Tochter Lea, Tryggvi, der Lebensabschnittspartner von Petras Tante, und Irma, eine Hotelangestellte. Die Vier beobachten nicht nur die anderen während des Treffens oder agieren mit verschiedenen Familienmitgliedern, sondern ihre Gedanken schweifen auch in die Vergangenheit, u.a. werden Kindheitserinnerungen geweckt. Von Beginn an spürt man, dass diese Schlüsselpersonen irgendein Geheimnis mit sich herumtragen, sei es ein traumatisches Erlebnis oder Schuldgefühle, auf jeden Fall etwas, das sie belastet, das niemand wissen darf, auch nahe Verwandte nicht. Je mehr man hinter die Fassade dieser Menschen blickt, desto offenbarer wird es, das dies keine herzliche, emphatische Familie ist. Sie wirken kaum sympathisch, sondern ichbezogen, oberflächlich, überheblich; sie kümmern sich nicht umeinander. Nach außen wahren sie den Schein der Reichen und Schönen. Im Grunde sind sie alle seelisch vereinsamt, im tiefsten Inneren eigentlich unglücklich. Sie ertränken ihre Probleme in Alkohol, auch Drogen sind im Spiel. Die Charaktere sind sehr gut vorstellbar gezeichnet.

Das Buch ist vom Anfang bis zum Ende fesselnd geschrieben. Die Autorin führt die Leserschaft geschickt in die Irre. Man vermutet mal dieses, mal jenes Familienmitglied als Opfer, sieht verschiedene Personen als Täter. Immer wieder überrascht eine unerwartete Wendung, bis letztlich nach einem dramatischen Finale alle Fäden zueinander finden, sich alles klärt.

Mir hat „Verlassen“ sehr spannende Lesestunden bereitet und Lust auf weitere Bände dieser Autorin gemacht. Eine Leseempfehlung mit 5 Sternen.