Auf der Suche nach der eigenen Identität

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In ihrem Roman “Viktor” macht sich die niederländische Autorin Judith Fanto auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität, spürt der Geschichte ihrer Familie nach und legt Gefühle von Schuld, Angst und Verlust frei.

Judith, zu Beginn noch Geertje genannt, wächst in den Niederlanden auf. Ihre Großeltern mussten während des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat Wien fliehen und in Belgien untertauchen. Die Beziehung der Familie zum eigenen Judentum ist kompliziert und stark durch Angst, Traumata und Verdrängung geprägt. Daher ist Judith sich lange Zeit der eigenen Familiengeschichte und Identität kaum bewusst.

Erst als Judith in der Stadtbibliothek Bücher über den Krieg und die Judenverfolgung entdeckt, fängt sie an, sich mit der Vergangenheit intensiv auseinanderzusetzen. Die Akzeptanz der jüdischen Identität, die von den Großeltern und Eltern so lange Zeit unterdrückt wurde, führt bei Judith dazu, dass sie einer jüdischen Gemeinde beitritt, sich mit jüdischen Traditionen und Bräuchen vertraut macht und dass sie schließlich sogar ihren Namen ändert: Judith, die jüdische Frau.

Mit ihrer Akzeptanz stellt sich Judith der Geschichte entgegen. Als Erste in ihrer Familie erkämpft sie sich einen Platz in der Gegenwart, der sich nicht durch Ängste, Schuldgefühle und Traumata definiert. Sie will sich nicht verstecken, sondern sucht nach der Wahrheit und scheut keine Konfrontation.

Doch damit ist nur eine der zwei Zeitebenen beschrieben, auf denen der Roman spielt. Der Roman macht den Leser auch mit dem Leben Viktors bekannt, dem Bruder des Großvaters von Judith. Judith fühlt sich mit Viktor verbunden, denn ihre eigene rebellische Art erinnert die Großeltern oft an Viktor. Die Faszination für ihren Vorfahren rührt sicherlich auch daher, dass sie immer nur Bruchstücke aus seinem Leben erfährt und nie seine ganze zusammenhängende Lebensgeschichte. Also macht sie sich im Familienarchiv selbst auf die Suche, findet Briefe, Tagebucheintragungen und andere Dokumente, die es ihr ermöglichen, Viktors Geschichte nachzuzeichnen.

Viktor ist eine starke Figur, die sich nichts vorschreiben lässt, die sich weigert, die Umstände zu akzeptieren und sich auflehnt. Dass er anstatt “Heil Hitler” konsequent “Drei Liter” ruft, ist lediglich eine seiner zahlreichen Wiederstandshandlungen.

Diese zweite Handlungsebene verdeutlicht, wie sich der institutionelle Antisemitismus während der Nazi-Herrschaft in Wien allmählich ausbreitete, wie Razzien, Ausschreitungen und Gewalt den Alltag zu bestimmen anfingen. Zunächst begann man, getrennte Schulklassen für jüdische Kinder einzurichten. Doch schon bald kam es zu einer Entfesselung von Hass, der in der Enteignung, Demütigung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung endete und in einem drei Tage und Nächte andauernden Pogrom nur einen ihrer Höhepunkte fand.

Judith Fanto hat mit diesem Roman ihrer eigenen Familie, und ganz besonders Viktor, ein Denkmal gesetzt. Sie hat die verlorenen Stimmen, die der Welt auf grausamste Weise entrissen wurden, wieder zum Leben erweckt und sie ihre Geschichte erzählen lassen. “Viktor” ist ein lesenswerter Roman, der gekonnt geschrieben und oft tiefsinnig ist und zuweilen sehr nahe geht.