Befreiung des untergetauchten Familienbewusstseins

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Dieser Debütroman der Niederländerin Judith Fanto (*1969) über eine jüdische Familie aus Wien und ihre Nachkommen hat einen realen biographischen Hintergrund. Vermutlich hat er mich deshalb so begeistert wie auch berührt.

Wir schreiben das Jahr 1994. Die junge holländische Studentin Geertje weiß, dass ihre Familie zum Christentum konvertiert und eigentlich jüdischer Herkunft ist. Ursprünglich stammen die Großeltern aus Wien und waren während der Kriegszeit in Belgien untergetaucht. Aber über die Vergangenheit scheint ein Tuch aus Schweigen und aus wiederkehrenden Floskeln gebreitet. Geertje erscheint es, als würde sich die Eltern- und Großelternseite des Judentums schämen.

„Dass wir jüdisch waren, merkte man an nichts.“ S. 17

Sie ist in einer Phase, wo sie nach ihren familiären Wurzeln sucht, um zu ihrer eigenen Identität zu gelangen. Doch sie stößt ständig vor eine Wand aus Schweigen und leeren Worten. Ab und an taucht der Name eines Großonkels auf. Viktor – aber auch der „lebt nicht mehr“ und war scheinbar das schwarze Schaf in der Familie. Gerade deshalb wird er zum Ansatzpunkt für Geertjes Ausbruch und Nachforschungen. So unternimmt sie erste Begegnungen mit dem Judentum. Nicht nur in der Literatur, sondern gleich in einer jüdischen Gemeinde. Hier merkt sie, dass sie rein gar nichts über Glauben und Kultur weiß.

Mit dem Wechsel der Kapitel lernen wir als Leser*innen auch Viktor kennen, beginnend als Schulbub im Jahr 1914 in Wien. Auch wenn Viktor aus seiner Familie etwas herausfällt, wächst er uns sogleich ans Herz. Er mag ein unkonventioneller Schürzenjäger mit lockerem Verhältnis zum Gesetz und gesellschaftlichen Regeln zu sein, aber besticht mit Mut, Ideenreichtum und Warmherzigkeit. Durch seine Perspektive erleben wir die Geschichte der jüdischen Großfamilie Rosenbaum bis zum Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 und in die Verfolgung in allen erschreckten Facetten.

Neben der innigen Liebe zur Musik des Wieners Gustav Mahler und Rezepten aus der jüdischen Küche scheinen nur ein paar handgreifliche Relikte aus Wien – eine eine alte Chanukkia, die Siddurim, die Esterrolle und der angeschlagene Sederteller… im holländischen Haushalt von Geertjes Familie verblieben zu sein. Doch es liegen andere Relikte noch in dem Bewusstsein der Familienmitglieder. Davon sind nicht nur die betroffen, die die furchtbaren Geschehnisse noch am eigenen Leib erlitten haben, sondern auch die Nachgeborenen. Selbst wenn es nicht ausgesprochen wird – oder gerade WEIL es nicht ausgesprochen wird – sind die Vergangenheit und ihre Folgen allgegenwärtig.

„Für meine Familie ist der Krieg nie wirklich zu Ende gegangen; sie lebt gewissermaßen noch immer untergetaucht.“ S.89

Selbst die holländischen Namen ihrer Töchter bzw. Enkelinnen lassen die Familiengeschichte nicht erkennen. Für Geertje erscheint ihr Vorname nun wie ein Deckname, den sie abstreift.

„Ich bin keine Geertje. Ich habe mich bemüht, aber aus mir wird nie eine Geertje.“

Von nun an heißt sie ganz offiziell Judith. Damit beginnt sie die Mauer des Schweigens einzureißen.

Fazit:

Das Cover, das das Gemälde „Dame in Gelb“ (1899) von Max Kurzweil und einem Bild des Wiener Rathauses aus gleicher Zeit miteinander verbindet, ruft bei mir die innere Vorstellung der Jugendstilzeit hervor. Zusammen mit der Musik Mahlers, die in der Geschichte immer anklingt, ergibt dies den Eindruck der guten alten Zeit in Wien, der das Familienbewusstsein immer noch nachtrauert. Ein gelungener Einstieg.

Die beiden Handlungsstränge um Geertje/Judith und rückblickend um ihren Wiener Onkel Viktor wechseln sich kapitelweise ab. Zur Orientierung in der Familiengeschichte ist gleich vorne ein kurzer, übersichtlicher Stammbaum eingefügt. Es besteht also keine Gefahr sich in der Zeit oder der Stammbaumzweigen zu verirren.

Nicht nur das Ringen um Selbstfindung der jungen Geertje/Judith, sondern das Verhalten ihrer Eltern und Großeltern wird im Laufe der Geschichte sehr gut nachvollziehbar dargestellt. Erschreckend ist, wie die Nachwirkungen der schrecklichen Vergangenheit selbst auf den Folgegenerationen lasten. Die Nachforschungen der jungen Frau ergeben immer wieder überraschende Wendungen, die die Überlebenden ihr Schweigen brechen lässt.

Was mir gefällt ist das Spiel zwischen den tragischen, erschreckenden Momenten, der Auflehnung und dem Humor, der nicht zu kurz kommt. Genau der ist es, der Viktor bis zuletzt durch die schlimmen Zeiten hindurchträgt.

Judith Fanto erzählt hier ihre eigene und die Geschichte ihrer Familie mit viel Empathie und Bilderreichtum. Gleichzeitig setzt sie ihrem Großonkel Viktor ein sehr bewegendes Andenken.