Identitätssuche

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Mit „Viktor“ schrieb Judith Fanto ein wundervolles Familienepos, das in den Niederlanden als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet wurde.

Geertje ist auf der Suche nach ihrer wahren Identität. In eine jüdische Familie hineingeboren, einem „Stamm der nichtjüdischen Juden“, spürt sie ihren Wurzeln nach, will als einzige in der Familie das Judentum ergründen und kommt Stück für Stück ihrem Ziel näher, wenn auch nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Rückschläge sind vorprogrammiert, aufgeben ist für sie keine Option.

In Wien begegnen wir Viktor, im Buch als Bruder Leichtfuß tituliert (so herrlich altmodisch). Er ist ein kluger Kopf, ein Meister im Geschäftemachen, dem die Herzen der Frauen nur so zufliegen. Als kleiner Junge gabelt er Bubi auf, der wochentags in einem Heim mehr schlecht als recht lebt. Er nimmt ihn einfach mit nach Hause, wo er liebevoll empfangen wird und schon bald dazugehört. Viktor hat ein gutes Herz, ist ein Tausendsassa, ein liebenswertes Schlitzohr, er zieht sein Ding durch, bleibt aber dennoch geradlinig, auch wenn es ihm zuweilen schadet. Sein Äußeres lässt nicht auf einen Juden schließen, was lange für ihn von Vorteil ist. Die Familie Rosenbaum lebt in Wien, ist dort etabliert. Ihr doch recht komfortabler Alltag ändert sich, als die Nationalsozialisten auch hier unerbittlich vordringen.

Das Kennenlernen fiel mir bei Viktor leicht, mit ihm ging ich sofort gerne durch Wien, er hatte das gewisse Etwas. Nahm das Leben nicht allzu ernst, aber man konnte sich durchaus auf ihn verlassen. War ich zunächst eher von Viktor und der Wiener Verwandtschaft angetan, tastete ich mich später an Geertje heran. Zu ihr musste ich erst einen Zugang finden. Die weit zurückliegende Vergangenheit schien sehr vielschichtiger, ungleich interessanter geschildert.

Diese beiden Epochen – das Heute und das Gestern – bewegen sich aufeinander zu. Judith im niederländischen Nimwegen, wir schreiben das Jahr 1994, geht zurück, erforscht die Vergangenheit, gräbt immer tiefer in ihrer Familiengeschichte, während Viktor 1914 in Wien nach vorne strebt. Von seinen unbeschwerten Jahren als junger Mann bis hin in die dunklen Zeiten des Nationalsozialismus, der auch in Wien angekommen ist, begleite ich ihn.

Judith Fanto erzählt die Geschichte ihrer Familie sehr bildhaft, mich haben sie alle berührt in ihrer Einzigartigkeit. Voller Wärme schildert sie deren Leben, hier spürte ich den ernsten Hintergrund während der immer gefährlicher werdenden Nazi-Jahre, ihre Beklemmung und Betroffenheit ob der sich ganz schnell wandelnden Gesellschaft.

Mit „Viktor“ bin ich gerne nach Wien Anfang des letzten Jahrhunderts gereist, die Autorin hat mir diesen Teil ihrer Geschichte mit ihrem feinfühligen Erzählstil sehr nahe gebracht. Geertje dagegen blieb mir etwas fremder. Auch mit ihr erlebte ich viele kurzweilige Lesestunden, ihre Geschichte konnte mich aber nicht so fesseln wie die von Viktor, dem Charmeur und Herzensbrecher. Das Gerüst bildet das Judentum während der NS-Herrschaft und das damit verbundene Leid, all der Tragik und Aussichtslosigkeit, die Flucht und das Leben danach. So nähern sich Vergangenheit und Gegenwart immer mehr einander an und ganz zum Schluss erfährt man dann doch, wie und ob Viktor und Geertje verbunden sind. Man wird staunen.