Berührendes Frauenschicksal in England zwischen den Weltkriegen

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emma winter Avatar

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Zunächst klang der Klappentext etwas dröge, da Stickarbeiten für die Kathedrale von Winchester und Glockenläuten wesentliche Aspekte des Romans sind.
Die Leseprobe zu diesem Buch hat mich aber überzeugt. Die achtunddreißigjährige Violet hat im Ersten Weltkrieg ihren Verlobten und ihren geliebten Bruder verloren. Um nicht noch länger bei ihrer ewig nörgelnden Mutter leben zu müssen, zieht sie von Southampton nach Winchester. Ihr mageres Gehalt als Schreibkraft reicht gerade für ein Zimmer zur Untermiete und einmal wöchentlich für eine warme Mahlzeit. Bei den jüngeren Kolleginnen gilt sie bereits als alte Jungfer. Als Violet sich den Broderinnen anschließt, die mit ihren kunstvollen Stickarbeiten Kissen für die Kathedrale anfertigen, scheint es, als bestätige diese Beschäftigung noch das altjüngferliche Dasein.
Das Gegenteil tritt aber ein, denn Violet findet Bestätigung, Anerkennung und Freunde. Ein neues Selbstbewusstsein nimmt von ihr Besitz, das sie auch nach und nach auf die anderen Bereiche ihres Lebens ausweitet.

Der Autorin ist ein berührendes Frauenporträt gelungen, das stellvertretend für eine ganze Generation steht. Die Abhängigkeit alleinstehender Frauen vom Wohl und Wollen der Familie, der Arbeitgeber, ja sogar von der Vermieterin, wird hier anschaulich geschildert. Violets Schicksal zeichnet nach, wie schwer es damals war, selbstbestimmt zu leben.
In einer bildreichen Sprache erfährt der Leser Details über die Künste des Stickens von Kniekissen und das Läuten der Kirchenglocken. Harmonisch hat Tracy Chevalier historische Personen und Begebenheiten in ihrer Geschichte verwoben und damit Louisa Pesel, der Initiatorin der Winchester Broderinnen, ein Denkmal gesetzt.
Über das hoch komplizierte Wechselläuten der Kirchenglocken, das über mehrere Stunden dauern kann, hatte ich vor Jahren bereits gelesen - in einem Krimi. Tatsächlich wird „Der Glocken Schlag“ von Dorothy L. Sayers auch bei den Quellen zu dem vorliegenden Buch genannt.

Der Roman hat mich sehr gut unterhalten. Er ist atmosphärisch geschrieben und hat die Zeit der dreißiger Jahre vor meinen Augen aufleben lassen. Violet ist ein sympathischer Charakter, mit dem man mitgefiebert hat. Einzig die Figur des Jack Wells erschien mir etwas konstruiert.
Dass der englische Titel „A Single Thread“ (Ein einzelner Faden) wesentlich besser zu der Geschichte passt, werden alle erkennen, wenn er auf Seite 295 zitiert wird. Er bezieht sich auf wesentlich mehr als das Sticken.