Frauenüberschuss

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hasirasi2 Avatar

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Der 1. WK ist seit 13 Jahren vorbei, doch Violet steckt in ihrem Leben fest. Sie hat den Verlust ihres Verlobten nie verwunden, der genau wie ihr älterer Bruder gefallen ist. Seit dem Tod ihres Vaters vor einem Jahr lebt sie mit ihrer Mutter in deren Haus in Southampton und wird den ganzen Tag von ihr schikaniert. Zum Glück hat sie nach dem Krieg einen Schreibmaschinenlehrgang besucht und als eine Versicherung in Winchester Schreibkräfte sucht, ergreift sie die Chance zur Flucht aus ihrem bisherigen Leben. „Für Violet war das Schreibmaschineschreiben ein monotoner und stumpfsinniger Vorgang, der mit der Zeit etwas Meditatives bekam und sie in einen Zustand versetzte, in dem sie nicht mehr nachdachte, sondern einfach nur war.“ (S. 19)
Doch auch in Winchester ist sie einsam. Ihre Kolleginnen sind deutlich jünger als sie und es gibt keine ledigen Männer, dafür einen großen Frauenüberschuss. Die Stadt ist zu klein, um sich wie früher 2-3 Mal im Jahr an eine Hotelbar zu setzen und darauf zu warten, dass ein Mann sie anspricht und auf einen Sherry einlädt – der Code für einen One-Night-Stand.
Als sie eines Tages in einen Segnungsgottesdienst der Broderinnen (Stickerinnen) platzt, findet sie ihre neue Bestimmung. Frauen aller Altersklassen und Schichten sticken wunderschöne Stuhl- und Kniekissen für die Ausschmückung der Kathedrale. Sie schließt sich ihnen an, lernt Sticken und fühlt sich endlich nützlich. „Vermutlich versuche ich hier einen Neuanfang … Spirituell und auch physisch. Ich habe gedacht, wenn es hier drin ein ganz kleines Stück von mir gäbe, könnte das vielleicht helfen.“ (S. 94)

Chevalier Tracy hat mich wie in ihren bisherigen Büchern vor allem durch ihre extrem ruhige Erzählweise und großartigen Beschreibungen überzeugt. Sie kann mit Worten malen, ich habe sofort Violets tristes Leben und die farbenprächtigen Stickereien vor mir gesehen. Besonders spannend fand ich, dass es Miss Pesel, die Leiterin der Broderinnen, und die Kissen wirklich gab bzw. noch gibt.

Violet selbst lässt mich etwas zwiegespalten zurück. Sie hat sich einerseits zu sehr in ihr Schicksal gefügt, immer wieder nachgegeben und war recht blauäugig, auf der anderen Seite hat mich am Ende sehr überrascht, auf welche Art und Weise sie ihr Glück findet und durchsetzt.

Die Autorin lässt das England der 30er Jahre lebendig werden und beleuchtet dabei vor allem die Rolle der „alten Jungfern“ (Violet ist ca. 39). Diese Frauen haben kaum eine Chance, noch einen Partner zu finden und liegen deshalb ihren Familien auf der Tasche. Es wird erwartet, dass sie sich um die Eltern kümmern oder klaglos in die Haushalte von verheirateten Geschwistern einfügen. Der einzige Ausweg ist eine – meist unterbezahlte – Arbeit und ein winziges Zimmer in reinen Frauenhaushalten.

„Violet“ ist ein Roman über Selbstfindung und Selbstbestimmung englischer Frauen in den 30er Jahren.