Violet, einer der Broderinnen (Stickerinnen) von Winchester

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„Violet“ von Tracy Chevalier (auch die Autorin von „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“) ist ein eindringliches und stilles Buch geschrieben, dass uns nach Winchester in das Jahr 1932 führt.
Violet ist 38 Jahre alt und hat im 1. Weltkrieg ihren Verlobten verloren und kann das Wort „Frauenüberhang“ (durch den Krieg gab es 2 Millionen weniger Männer als Frauen) nicht mehr hören. Sie hat viele Zeitungsartikel darüber gelesen: „In einer Gesellschaft, die auf der Institution Ehe basierte, galt das einerseits als Tragödie, andererseits sahen manche in den vielen ledigen Frauen auch eine Bedrohung.“ (S. 29) Nach dem Tod ihres Vaters lebt sie weiterhin mit ihrer dominanten und herrschsüchtigen Mutter, hält das Zusammenleben jedoch nicht länger aus und zieht nach Winchester. Dort fristet sie ihr Leben eher schlecht als recht, ihr Verdienst als Schreibkraft ist gering: „Einmal in der Woche gönnte sie sich einen Kinoabend, ihr einziger Luxus, allerdings verzichtete sie an dem Tag auf das Mittagessen.“ (S. 35) Sie fühlt sich einsam, empfindet ihre Situation aber als Preis der Freiheit, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu führen.
Ihr Leben verändert sich jedoch, als sie zufälligerweise in einen Segnungsgottesdienst der Stickerinnen der Kathedrale von Winchester gerät. Beeindruckt einerseits von der Schönheit der Kniekissen, die diese Broderinnen für die Kathedrale geschaffen haben, aber auch andererseits auf der Suche nach sozialen Kontakten, tritt sie dem Stickclub bei. Diese Entscheidung verändert ihr Leben: sie gewinnt Freundinnen und lernt durch diese Arthur kennen, einer der „bellringers“ (Glockenläuter) kennen. Und langsam wird Violet immer selbstbewusster und entschlossener, sich gegen die gängigen Konventionen (die es damals für unverheiratete Frau in Hülle und Fülle gab – manchmal staunte ich beim Lesen, was „frau“ damals alles nicht machen durfte!) zu stellen.
Tracy Chevalier ist ein Roman gelungen, der uns Violet sehr nahebringt. Ähnlich wie bei dem „Mädchen mit dem Perlenohrring“ werden wir Leser*innen in die Geschichte einbezogen, die uns berührt und bewegt. Da ich selbst mal eine „Stickphase“ hatte, fand ich die Beschreibung der Sticktätigkeit sehr eindrucksvoll. Im Nachwort steht, dass Louisa Pesel (Leiterin der Stickgesellschaft) eine reale Person ist und tatsächlich in Winchester gelebt und gearbeitet hat, gegoogelt habe ich dann noch, dass ihre Stickbilder zu einem großen Teil in der Universität von Leeds ausgestellt sind. Und über die schwere Kunst und Tradition des Glockenläutens in England hatte ich schon vor sehr vielen Jahren in einem Krimi von Dorothy Sayers gelesen und mich hatte schon damals die notwendige Perfektion dieser Tätigkeit fasziniert.
Ich möchte an dieser Stelle aber nicht verheimlichen, dass ich ungefähr in der Mitte des Buches einen „Durchhänger“ hatte (ich fand einige Beschreibungen zu detailliert), ich musste für mehrere Tage pausieren. Dann jedoch bin sofort wieder gut in die Handlung gekommen und konnte bei der 2. Hälfte das Buch kaum noch aus der Hand legen. Der Schluss war überraschend, hat mich berührt und hat mir gezeigt, dass Violet ihren eigenen Weg gut gemeistert und auf die Normen der damaligen Zeit „gepfiffen“ hat. Dieses Buch hat mir auch gezeigt, dass vieles, was wir heutigen Frauen als selbstverständlich betrachten, mühsam von den Frauen früherer Generationen erkämpft werden musste!
Alles in allem: ich kann dieses Buch mit sehr gutem Gewissen an alle Liebhaber*innen historischer, leiser, sensibler Romane weiterempfehlen!