Wunderbar unaufgeregte, angenehme Unterhaltung

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hiclaire Avatar

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Romane, die zwischen den Weltkriegen spielen gibt es derzeit eine ganze Reihe. Nachdem ich den ein oder anderen (gerne) gelesen habe, scheinen mir jedoch viele austauschbar, zumindest der Kurzbeschreibung nach, so dass es mir erst mal „gereicht“ hat ;).
Mit „Violet“ hegte ich die Hoffnung auf eine Geschichte abseits des Mainstream, schon allein durch das Cover (mal keine Rückenansicht einer Frau in wehendem Kleid oder Mantel, die sich augenscheinlich im Aufbruch befindet) - und ich wurde tatsächlich nicht enttäuscht.

Tracy Chevaliers Roman hat mir von der ersten Seite an Freude bereitet, obwohl ich jetzt nicht der ganz große Fan von Sticken und Glockengeläut bin *g*. Ruhig und voller Empathie erzählt sie von Violet und anderen jungen, oder nicht mehr ganz jungen Frauen, denen der inzwischen einige Jahre zurückliegende Krieg die Männer genommen und die Zukunftsperspektiven geändert hat. Mit diesem „Frauenüberhang“ müssen sie sich irgendwie arrangieren.

Violet ist 38 Jahren alt und zählt damit schon zu den „nicht mehr ganz Jungen“. Als die Geschichte einsetzt, hat sie gerade den Mut gefunden, aus ihrem Elternhaus in das einige Meilen entfernte Winchester zu ziehen um dem unbefriedigenden Zusammenleben mit ihrer verwitweten, ewig nörgelnden Mutter zu entkommen. Eine Stelle als Schreibkraft bei einer Versicherung sichert ihr das Lebensnotwendigste, doch ihre dortigen Lebensumstände sind sehr bescheiden und mit großen persönlichen Einschränkungen verbunden, so ist sie z.B. ständig hungrig und friert. Sie nimmt es einigermaßen stoisch hin, denn ihre Unabhängigkeit bedeutet ihr enorm viel. Als diese ihr zu entgleiten droht, kämpft sie um deren Erhalt. Denn gerade als sie in Winchester so etwas wie ein Leben für sich aufgebaut, ihren Platz unter den Stickerinnen gefunden und vorsichtige Freundschaften geschlossen hat, erkrankt die Mutter. Und wie selbstverständlich wird von der unverheirateten Tochter erwartet, dass sie die Pflege der übernimmt, ungeachtet dessen ob sie es will und was sie dafür aufgeben muss. Dabei gäbe es auch noch ihren Bruder und dessen Familie….

Wie Tracy Chevalier ihre Figuren zeichnet, hat mir außerordentlich gefallen. Dabei spielt sie ein wenig mit dem ein oder anderen Klischee, ohne dass diese „klischeehaft“ wirken. Eine männliche Nebenfigur gibt es, für die das nicht ganz zutrifft (vielleicht einem gewissen Spannungsmoment geschuldet), ansonsten fühlen sich allesamt echt an mit ihren Stärken und Schwächen, Nöten und Gefühlen.
Auf den ersten Blick scheint Violet ein bisschen spröde in ihrer zurückgenommenen Art, sie hadert mit sich und ihren Ängsten. Doch für ihren Mut, diese zu überwinden und neue Wege zu beschreiten, kann man sie nur bewundern. Eine weibliche Hauptfigur wie ich sie mag, neugierig, lebensklug, ein wenig selbstironisch und mit feinem, trockenem Humor, der gelegentlich aufblitzt.

Wie der Kurzbeschreibung zu entnehmen ist, spielen Stickereien für die Kathedrale von Winchester eine wichtige Rolle. Louisa Pesel, die zentrale Figur für die Stickerinnen, hat es tatsächlich gegeben und mit diesem Aspekt der Geschichte wollte die Autorin ihr und ihrem Wirken ein Denkmal setzen, wie sie im Nachwort schreibt. Auf der Homepage von Tracy Chevalier gibt es wunderschöne Bilder dieser gestickten Kunstwerke zu sehen. Sie haben tatsächlich Jahrzehnte überdauert und damit die Wünsche der fleißigen Stickerinnen erfüllt. Die Informationen zum Glockenläuten fand ich jetzt nicht ganz so spannend, aber durchaus interessant, gerade weil davon so gar keine Ahnung hatte.

Tracy Chevalier erzählt diese Geschichte in ebenso eloquentem wie angenehm zu lesenden Stil. Sie verzichtet auf die ganz großen Emotionen und auch in „Liebesdingen“ legen ihre Figuren einen wohltuenden Pragmatismus an den Tag, der mir gut gefallen hat.

Insgesamt ein wirklich schöner Roman, in dem die historischen Details um die Stickereien der Kathedrale von Winchester und Louisa Pesel wunderbar mit der Entwicklung Violets und ihrer Freundinnen verwoben wird. Aus einer Zeit, in der althergebrachte Rollen und gesellschaftliche Strukturen die Frauen noch einengen, aber doch zunehmend in Frage gestellt werden.

Wunderbar unaufgeregte, angenehme Unterhaltung.