100 Jahre im Leben einer starken Chilenin

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missmarie Avatar

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"Du bist kein kleines Kind. Verteidige deine Unabhängigkeit, lass nicht zu, dass jemand anderes für dich entscheidet. Du musst lernen, alleine klarzukommen."

Mit diesen Worten wird die junge Violeta in die Hauptstadt Sacramento geschickt, wo sie erstmals - zwar an der Seite ihres Bruders - für sich selbst einstehen muss. Was folgt sind tatsächlich viele Jahre, in denen Violeta mal mehr mal weniger unabhängig aber stets mutig und selbstbestimmt durch das Leben geht. Ihre Hochzeiten - drei (fast) Ehemänner und einige Liebschaften sollen es im Verlauf ihres Lebens werden - geht sie eher aus Vernunft als aus Liebe ein. Und auch wenn sie von den historischen Ereignissen nicht viel wissen möchte, haben sie doch immer wieder einen Einfluss auf ihr Leben. Schließlich erlebt sie nicht weniger als die Spanische Grippe, den Zweiten Weltkrieg, den Putsch unter Pinochet, den Fall des Eisernen Vorhangs, die Gräueltaten in der Colonia Dignidad und die Corona-Pandemie mit. Und da sind die zum Teil illustren Figuren, die alle auf ihre Wiese mit der Geschichte verbunden sind und in Violetas Leben treten. Von ihnen und den 100 Jahren Lebenserfahrung schreibt Violeta im gleichnamigen Roman in Form eines Briefes an ihren Enkel.

Zu diesem Figurenarrangement zählen viele starke Frauen - das ist mir besonders positiv in Erinnerung geblieben. Gleich zu Beginn tritt meine Lieblingsfigur in Erscheinung: Miss Taylor, die Gouvernante von Violeta, die sich in die Feministin Theresa verliebt und mit ihr bis an deren Lebensende zusammen bleibt - und das in den 1930er Jahren!

Eindrucksvoll schildert Allende auch jene Frauen, die sich gegen die Militärdiktatur zur Wehr setzen, die Frauengruppen gründen, für Abtreibungsrechte und Scheidungen einstehen und sich gegen die Gewalt an Frauen einsetzen. Denn vor allem letzteres ist auf den 400 Seiten immer wieder ein Thema.

Leider gelingt es Allende aber nicht - anders als in ihren anderen Werken, auf die sich immer wieder Anspielungen finden lassen - die vielen Einzelerzählung in einen kontinuierlichen Erzählsprung zu verdichten. Es gibt viele Nebenschauplätze, Handlungsstränge, die im Nichts enden und blutleere Figuren. Das betrifft insbesondere einige Männer im Leben von Violeta. Geschuldet ist dieses ausgefranzte Erzählen wohl dem Anspruch auf historische Vollständigkeit. Zwar werden die historischen Einschübe dank der zum Teil unglaublichen Geschichte nie langweilig. Dennoch fehlt das verbindende Elemente und so wird der Roman vor allem ein Buch über das Alter und das Altern.