Lieblingswort "Atem"

Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern Leerer Stern
sago Avatar

Von

Darf man einen Roman nicht mögen, der bereits vor seiner Drucklegung mehrfach prämiert wurde? In meinem Fall ist es leider so. Ich hätte ihn nicht einmal zu Ende gelesen, hätte ich mich nicht aus Anstand gegenüber Vorablesen dazu verpflichtet gefühlt.
Der Autor weiß hervorragend zu formulieren. Hätte er nur eine Geschichte geschaffen, die den Leser interessiert, mit Figuren, die plastisch sind und einen nicht kalt lassen. Im Grunde wirkt das Ganze beinahe wie eine Dokumentation, vor allem, weil es fast gar keine direkte Rede gibt. Taucht sie doch einmal auf, erscheint sie in kursiver Schrift ohne Anführungszeichen, als wäre schon das allein irgendwie künstlerisch.
Zunächst dachte ich, wenigstens gibt es hier schöne Metaphern, als der Autor vom „Atem des Meeres“ sprach. Leider atmet hier aber einfach alles: der Holzfußboden, der Regen rinnt in Atemzügen hinab usw. Das wirkt schon nach kurzer Zeit redundant und einfach nur nervig, fast wie eine Art Tick. Selbst der Atem des Meeres taucht später wieder auf. Auf mich wirkte dieses Selbstzitat unfreiwillig komisch.
Hauptprotagonistin ist Annemie, unehelich geboren, von ihrer Mutter in Pflegschaft gegeben. Dennoch wird sie von ihren Zieheltern innig geliebt und gut behandelt. Sie wächst zusammen mit dem Pflegekind Jonathan auf. Als sie das Haus ihrer Pflegeeltern verlässt, landet sie zunächst im Armenhaus und dann bei einem Experimenteur, der ihr betrunken gemeinsam mit einem weiteren Mann eines Nachts Gewalt antut. Dennoch zieht sie erst weiter, als der Experimenteur sie hinauswirft. Eine weitere Leidenszeit beginnt, denn Annemie ist schwanger. Das ungewollte Kind stirbt jedoch nach einer Weile. Später begegnet sie Jonathan wieder. Die beiden werden ein Paar. Seltsamerweise gibt es einen reichen Fabrikanten, der Unsummen zahlt, wenn er Kirschen schon im März bekommt. Unter einigen Widrigkeiten bauen Annemie und Jonathan, inzwischen Eltern, zu diesem Zweck ein Gewächshaus und kommen so zu Geld. Das wirkte auf mich etwas an den Haaren herbeigezogen.
Dann bricht ein Krieg aus und Jonathan wird eingezogen. Für mich völlig überraschend, wird Annemie zur Mörderin, als sie dem Experimenteur wiederbegegnet. Sie bringt ihn nicht nur aus Rache um, sondern foltert ihn auch noch vorher. Zu so etwas fähig zu sein, dazu gehört schon einiges. Nichts deutet für mich vorher in Annemies Charakter darauf hin, und mir wurde angesichts dessen klar, wie vollkommen blass und nichtssagend sie bis dahin geblieben war. Dasselbe muss man über Jonathan sagen. Als er als Kriegsflüchtling einen armen Hund umbringt, der sich ihm vorher eng angeschlossen hat, war ich einfach nur angewidert. Jonathan fürchtet, der Hund habe seine Verfolger auf seine Spur gebracht. Dann bringt es aber auch nichts mehr, ihn nun umzubringen. Von da an habe ich Jonathan alles Schlechte gewünscht und mich gefreut, als er zunächst wieder eingefangen wurde. Leider überlebt er dann als einziger doch noch. Meinte der Autor das, als er in der Widmung sagte, er solle ein Märchen schreiben? Bis auf das unrealistische Ende sucht man Märchenmotive leider vergebens. Immerhin war es das einzige Mal, das mich die Figur nicht kaltgelassen hat. Dass der Autor Abscheu gegen Jonathan erregen wollte, glaube ich aber eigentlich nicht.
Noch etwas störte das Lesen erheblich: Der Text hat links einen breiten Rand, rechts fast keinen. Das Taschenbuch ist sehr eng gebunden, es geöffnet zu halten, führte schnell zu verkrampften Händen. Ich habe mit Erstaunen gesehen, dass das Buch eigentlich gerade als gebundene Ausgabe zu einem sehr stolzen Preis herausgebracht wurde. Anscheinend ist das mir übersandte Leseexemplar als Taschenbuch eine Sonderanfertigung.
Ich schreibe sehr ungern negative Rezensionen. Auch lese ich nicht nur Unterhaltungsliteratur, sondern oft mit großem Vergnügen Anspruchsvolles und Klassiker. Dieses Buch hat mich leider in keiner Weise erreicht.