100 Jahre Familiengeschichte (1924 bis 2024)

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hennie Avatar

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Wäre diese traumatische Geschichte von vor hundert Jahren ans Tageslicht gekommen, wenn Elisabeth in ihrem Zuhause hätte bleiben können bis zu ihrem Tod? Ich glaube nicht. Doch die 94jährige kann sich nicht mehr allein versorgen und wechselt in ein Pflegeheim. Tochter Anja und Enkelin Lena kümmern sich um die Wohnung und den Nachlass. Dabei fallen der jungen Kunststudentin verschiedene Dinge in die Hände, die Fragen aufwerfen und nach Klärung verlangen. Sie forscht bei der Großmutter nach der Vergangenheit und nach dem aufschlussreichen Leben ihrer Tante Clara, Lenas Urgroßtante...

Für mich war es die zweite erfreuliche Begegnung mit einer Geschichte von Katharina Fuchs.
Ihr Schreibstil und die Darstellung ihrer Charaktere in dem jeweiligen Kontext, ob nun in der Gegenwart oder vor über 100 Jahren (hier 1924), sagen mir sehr zu. Der Roman springt in den Zeitebenen zwischen Lena, Anja, und Clara hin und her und die Kapitel sind zusätzlich überschrieben mit Ort, Monat und Jahreszahl. So konnte ich mich leicht in den Zeiten zurechtfinden. Die Handlungsorte sind Berlin und Hamburg. Die einprägsamen Schilderungen verschafften mir recht schnell lebendige Szenen und Bilder. Vor allem entsteht eine besondere Atmosphäre, wenn man eintauchen darf in die Erlebniswelt von Clara. Da hätte ich gern mehr davon erfahren.
Mir gefällt es, dass in beiden Zeitebenen geschichtliche, politische Ereignisse ins Geschehen mit einfließen. 1924 ist es u.a. die Währungsreform, die den Menschen neue Hoffnung bringt und den Grundstein legt für eine finanzielle Stabilisierung. Diskriminierende Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung von Frauen und Männern in der Flaschenreinigung der Berliner Kindl-Brauerei kommen zur Sprache (1 Pfennig für 20 gespülte Flaschen durch Frauen gegen 1Pf. für 12 gespülte Flaschen durch Männer). Solche Diskrepanzen werden mit fadenscheinigen Begründungen abgetan. In der Gegenwart sind es Demonstrationen und das Wiedererstarken des Antisemitismus, eine sehr beunruhigende Entwicklung, die Parallelen zur Geschichte aufweist. Die Autorin greift viele Themen auf, die Doppelbelastung der Frau in Familie und Beruf, Mobbing, politische Stimmung an Unis, veganes Leben...

Das Buch hat mich gut unterhalten. Es zeigte mir aber auch eindringlich die Entwicklung der Emanzipation der Frauen. Da gibt es heute noch viel zu tun!
Zum Ende hin wird ein wenig hastig das tragische Familiengeheimnis abgehandelt. Da hätte es noch die eine oder andere Erklärung bedurft. Die NS-Zeit war eine unfassbar schlimme Zeit und was mit den Juden geschehen ist, darf sich niemals wiederholen! Der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung mit ihren Auswüchsen muss dringendst entgegengewirkt werden.

Fazit:
Das Buch umfasst mehrere Generationen und wird lebendig und einfühlsam erzählt. Die Grundlage für den Teil von vor hundert Jahren bildet die Großtante Clara von Katharina Fuchs. Das erfährt man im aufschlussreichen, erklärenden Nachwort.

Meine Empfehlung für die Lektüre, die sich mit der Historie und der Zeitgeschichte befasst. Ich bewerte mit vier von fünf Sternen.