Wirklich schade

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sago Avatar

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Schade, schade. Wieder einmal frage ich mich, was für Romane entstehen würden, wenn Autoren, die so gut schreiben können wie auch Ryan Bartelmay, Geschichten mit interessanter Handlung über Protagonisten verfassen würden, die den Leser nicht kalt lassen. Man ahnt also schon, voran es mir hier gefehlt hat. Die Hauptfigur Chic Waldbeeser kann man als Antihelden bezeichnen. Nun habe ich eigentlich sogar eine Schwäche für Antihelden. Chic dagegen hätte ich buchstäblich würgen können, aber er hat mich ziemlich bald einfach nicht mehr interessiert. Die Kindheit von Chic und seinem um acht Jahre älteren Bruder Buddy überschattet der Selbstmord des Vaters, der sich eines Tages einfach hinter die Scheune setzt, um im Schnee zu erfrieren. Die Mutter der beiden nimmt sich umgehend einen Liebhaber und macht sich bald mit ihm davon.
Chic wird auf der Highschool von der hübschen Diane angesprochen, und bereits ein halbes Jahr später heiraten sie. Die Absichtslosig- und Gleichgültigkeit, mit der die beiden aneinander festhalten, hat mich verwundert. Es scheint so gar nichts zu geben, was sie verbindet, bis auf Chics trügerische Hoffnung, sie könne im Bett eine Wildkatze sein. Zunächst dachte ich noch: So war das vielleicht eben in den 50er Jahren, man nahm den erstbesten Partner. Im Grunde zieht sich das aber durch den ganzen bis 1998 reichenden Roman. Auch Mary, die Chic mit Mitte 60 kennenlernen wird, wirft sich stets jedem an den Hals, nur um versorgt zu sein. Unwillkürlich fragt man sich hier nach dem Frauenbild des Autors. Aber eigentlich müsste es eher eine Frage nach dem Menschenbild sein.

Bereits auf der Hochzeitsfeier entwickelt Chic ein Interesse für die exotische indische Frau seines Bruders, Liji. Chic ist nicht bewusst, dass Liji ihn nur benutzt in dem vergeblichen Versuch, den gleichgültigen Buddy eifersüchtig zu machen. Diane entgeht das Ganze nicht und so ist bereits die ganze Hochzeitsreise überschattet.
Da Diane seine Erwartungen enttäuscht, entbrennt Chic immer mehr für Liji. Er entwickelt sogar gewisse Stalkerqualitäten. Etwas was sich für mich auch durch den ganzen Roman zog, war ein gewisses absurdes und lächerliches Verhalten der Protagonisten. So sucht Chic Liji auf, entkleidet sich unmotiviert und macht rhythmische Hüftbewegungen vor ihr, als würde er mit der Luft kopulieren, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Diese Szene fand ich persönlich so grotesk, dass Chic bei mir verspielt hatte. Auch die fast 100 Kilo schwere ältliche Frau Mary setzt sich bei dem gealterten Chic beim Kennenlernen einfach auf den Schoß, als würde sie in einer Stripbar arbeiten und nicht als Kellnerin. Green, Marys Mann, bittet sie nach einem Tag um ihre Hand, aber nicht aus Liebe, sondern aus Angst vor dem Alleinsein. Das passt so gar nicht ans Ende des 20. Jahrhunderts! Der mittelalte Chic, der begonnen hat Haikus zu verfassen und dem Irrtum unterliegt, schon die Baskenmütze mache aus ihm einen Dichter, erzählt einer Supermarktkassiererin unmotiviert, wie dunkel sein Morgenurin sei. Eigentlich möchte man so etwas alles nicht lesen. Und das sind nur ein paar Beispiele!
Die Stärken des Romans lagen für mich zum einen in den bildhaften Vergleichen des Autors, die ich so noch nicht gelesen habe. So sind Dianes Schultern auf der Hochzeitsreise weiß wie Holzleim, ein gleichzeitig originelles und unerotisches Bild, das im Gedächtnis bleibt. Ellis, Lijis One-Night-Stand (denn so weit geht sie schließlich, um Buddys Beachtung zu bekommen) wird als so dünn wie ein Riss beschrieben, den man mit Nadel und Faden nähen muss.
Auch die Depression, in die Chic und Diane verfallen, nachdem sie ihren Sohn Lomax durch Ertrinken verlieren, war eindringlich und authentisch beschrieben. Für Diane konnte ich da ein Minimum an Sympathie entwickeln, während das Ganze bei Chic sehr bald schon wieder absurde Züge annahm.

Auf dem Buchumschlag wird der Roman als literarisches Meisterwerk gefeiert, auf der Innenseite des Buchumschlages heißt es, dies sei ein Roman über das Mittelmaß. Beides habe ich persönlich nicht so empfunden. Das Ganze wurde auch als „großzügig“ bezeichnet. Großzügigkeit kann ich nur darin erkennen, dass der Autor meint, diese Figuren hätten einen Roman verdient und könnten den Leser fesseln. Eine Figur wie Mary beispielsweise, die ihren frisch angetrauten Ehemann Green nach dessen Schlaganfall sofort im Stich lässt und sich Chic an den Hals wirft. Ein Protagonist wie Chic, der mit Mitte fünfzig ins Altersheim einzieht.
Ich bin zurückgeblieben mit dem Gefühl, über ein vergeudetes Leben gelesen zu haben und mit der Frage, warum Buddy im Gegensatz zu Chic die Kurve bekommt. Zu Beginn redet er mit dem Kissen als sei es sein toter Vater, später gelingt ihm dennoch ein glückliches Familienleben.
Leider hat mich auch der Moment, mit dem der Autor die Geschichte endet lässt und die Quintessenz, die im letzten Dialog gezogen wird, nicht annähernd überzeugen können. Dass die Handlung durch immer wieder wechselnde Zeitsprünge erzählt wird, ist ein zwar raffiniertes, aber nicht sehr seltenes Stilmittel. Schon gar nicht reicht es allein aus, um das Interesse des Lesers zu wecken und wach zu halten. Der Titel "Voran, Voran..." findet sich auch in den Briefen von Chics deutschem Urgroßvater. Das Zitat wird weiterhin bemüht, um den unaufhaltsamen Fluss des Lebens aufzuzeigen und die Art, wie die Menschen unerbittlich mitgerissen werden, trotz aller Schicksalsschlägen getrieben werden weiter zu machen. Leider fühlte ich mich bei diesem "Voran" als Leser nicht mitgenommen.