Träume, Spiele, Lügen

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buecherfan.wit Avatar

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Riikka Pulkkinens Roman “Wahr” ist ein Familienroman, in dem sich drei Generationen auf den bevorstehenden Tod von Elsa vorbereiten. Elsa, 70, eine berühmte Psychologin, die bis zum Ausbruch ihrer Krankheit noch viel beachtete Vorträge gehalten hat, hat Krebs im Endstadium und will ihre letzten Tage zu Hause verbringen. Betreut wird sie von Ehemann Martti, einem bekannten Maler, von Tochter Eleonoora, einer Ärztin Mitte 40 und den erwachsenen Enkelinnen Anna und Maria, die beide studieren. Eines Tages wollen Elsa und Anna ihr Verkleidungsspiel spielen, und Anna entdeckt im Schrank der Großmutter ein schönes altes Kleid. Sie erfährt, dass es Eeva gehört hat, und die Großmutter erzählt der Enkelin die Geschichte, die sie vierzig Jahre lang für sich behalten hat. Der Leser erfährt an dieser Stelle nichts davon, aber er weiß frühzeitig, dass es in Marttis Leben eine andere Frau gegeben hat, die er mehr geliebt hat als Elsa.

Elsas bevorstehender Tod bringt das Leben aller Familienmitglieder durcheinander. Sie haben schwer zu deutende, belastende Träume und hängen häufig Erinnerungen an früher nach. Eleonoora erinnert sich an ihre Mutter Elsa, als sie eine gesunde junge Frau war und an sich selbst als Kind, und auch Anna denkt intensiv an ihre Kindheit zurück. Mit wechselnder Perspektive erzählt Pulkkinen von den Geschehnissen in der Vergangenheit und der Gegenwart. Es ist nichts Besonderes, dass aus Marttis, Eleonooras und Annas Perspektive berichtet wird, aber schon ein ungewöhnlicher erzähltechnischer Trick, dass Eeva als Ich-Erzählerin auftritt, obwohl sie als Person im Roman nicht vorkommt. Sie erzählt die Geschichte ihrer Liebe von 1964-1968, und die Jahreszahlen kennzeichnen diese Einschübe für den Leser und machen deutlich, wer das ist: der Mann, das Kind. Eeva wurde wegen Elsas häufiger berufsbedingter Abwesenheit das Kindermädchen der Familie und verbrachte viel Zeit mit Martti und Eleonoora, genannt Ella. Das war der Beginn ihrer großen Liebe. 

Ein wesentliches Element im Roman ist die Annäherung zwischen Elsa und ihrer Enkelin Anna. Anna trägt eine tiefe Traurigkeit in sich, die von ihrer Mutter als Depression diagnostiziert wird. Die Traurigkeit breitet sich immer wieder in ihr aus wie ein Tintenfleck, aber sie spricht mit niemandem darüber, auch nicht mit ihrem Freund Matia, mit dem sie eigentlich eine gute Beziehung hat. Ein Jahr zuvor hat sie eine schwere Krise durchlebt. Nur ihr Großvater erkennt, was mit ihr los ist und fordert sie unter dem Deckmantel eines ihrer Spiele auf, über ihren Kummer zu sprechen (S. 193). Nach Jahren einer relativen Entfremdung kommen sich auch Martti und Anna wieder näher und spielen ihr Lieblingsspiel. Sie wählen Passanten oder Leute in der Straßenbahn aus und dichten ihnen eine Biografie an, erfinden detailreiche Geschichten über sie.

Anna wird zeitweise zur zentralen Figur im Roman. Was sie erlebt hat, spiegelt Eevas Geschichte vierzig Jahre zuvor und zwar bis in die Details. Beide Frauen haben sich in einen verheirateten Mann mit einem Kind verliebt. Beide lieben das Kind, das abrupt aus ihrem Leben verschwindet, als der Mann die Beziehung beendet, um zu seiner Frau zurückzukehren. Sowohl Eeva als auch Anna stecken in einer lebensbedrohlichen Krise und haben Schwierigkeiten ihr Leben weiterzuleben, eine neue Beziehung einzugehen.

Anna identifiziert sich sehr stark mit Eeva und stellt Nachforschungen an. Nach Elsas Tod wird sie ihrem Großvater schwere Vorwürfe machen, nicht etwa wegen seiner Untreue, sondern weil er sich Eevas bedingungsloser Liebe nicht würdig erwiesen, keine Verantwortung übernommen hat. Auch Tochter Eleonoora wird sich nach Elsas Tod mit ihrem Vater auseinandersetzen. Die Konfrontation mit einer unvollendeten Zeichnung von Eeva bringt Eleonoora völlig aus dem Gleichgewicht. Sie erinnert sich an den großen Schmerz in ihrer Kindheit, einen Verlust, der auch sie für immer geprägt hat.

Es passiert nicht viel in diesem Roman, aber er berührt durch die Darstellung des Schicksals von drei Generationen von Frauen, und er zeigt an ihrem Beispiel, welchen Schaden Schweigen und Verdrängung angerichtet haben Pulkkinen präsentiert in "Wahr" die Wirklichkeit von Kindern und Erwachsenen als eine Welt der Träume, Spiele und Lügen (S. 38). Alle werden verändert und geprägt durch die lang zurückliegenden verdrängten Ereignisse.

Der Roman überzeugt aber auch durch seine teilweise sehr poetische Sprache, durch die Beschreibungen der finnischen Landschaft und Lebensart, von Stimmungen, Wolkenbildern und dem Gesang der Vögel. Wer bereit ist, sich auf den ruhigen Erzählfluss einzulassen, kann eine sehr schöne Geschichte über Liebe und Tod, Verantwortung und Vertrauen und die Wahrheiten des Lebens lesen.