Schicksalhaftes Tagebuch

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singstar72 Avatar

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Natürlich muss man bei einem Tagebuch, dass aus dieser Zeit der Weltgeschichte stammt, mehrere Dinge bedenken. Es ist eben nicht „literarisch“ in dem Sinne, dass es einem Handlungsfaden folgen muss. Es gibt keine Spannungskurve, kein vorhergesehenes Ende ( eider nur im Rückblick…!). Und es ist notwendigerweise unvollständig, da die Person, die dieses Schicksal erleidet, zu jenem Zeitpunkt eben nicht alles wissen kann.

Dieses Tagebuch einer jungen jüdischen Frau wirkt dementsprechend sehr stark emotional auf mich. Es wurde in Eile begonnen – gerade noch war man im Urlaub, schon brechen ungeheuerliche Ereignisse auf die Familie herein. Es wird von Tag zu Tag, von Ereignis zu Ereignis, geschrieben. Der Schreibtakt ist schnell, beinahe gehetzt. Kein Wunder, denn die Schlinge um die polnischen Juden zog sich rasant zu.

Ein Gefühl, das sich mir als Leser vermittelt hat, war vor allem Rat- und Hilflosigkeit. Man konnte einfach nicht wissen, welches die jeweils beste Entscheidung ist. Man floh von Station zu Station. Und Nachrichten vom Vater blieben ebenfalls sporadisch. Selbst Leichen, über die die Familie während der Flucht buchstäblich stolpert, werden nur am Rande erwähnt – man war viel zu sehr mit der Rettung des eigenen Lebens beschäftigt. Vorherrschende Themen sind Hunger, Nachrichten aus der Verwandtschaft, die Beschaffung von Nachrichten, und Familienfeiern, die trotz allem abgehalten werden. ( Sehr berührt hat mich dieser eine Satz - „heute werde ich 15“… wie trostlos das klang! Oder der Onkel, der heimlich heiratet…)

Natürlich drängen sich mir auch Vergleiche zu anderen berühmten Tagebüchern auf. Anne Frank war rund drei bis vier Jahre jünger als Mary Berg; ihre Beobachtungen waren sehr viel mehr zwischenmenschlich, weniger politisch. Victor Klemperer hingegen hatte es wohl von vornherein eher auf eine gehobene Schreibweise abgesehen; sein Tagebuch ist enorm umfangreich, und berichtet aus einer nahezu internationalen Perspektive. Ruth Klüger wiederum vereint in ihrer Schreibweise die Perspektive des Kindes mit der der Frau – ein ganz anderes Ergebnis…

Mir scheint, das Tagebuch der Mary Berg füllt eine Lücke aus, besetzt einen ganz eigenen, menschlich erschütternden Standpunkt. Ich würde es gerne lesen!