Vom Leben und Sterben

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amara5 Avatar

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Nach dem großen Erfolg von „Der Freund“ denkt Sigrid Nunez in ihrem neuen Roman „Was fehlt dir“ tiefgründig über das Sterben, das Leben und die Freundschaft nach: Intellektuell, assoziativ und in einem nüchtern-klugen Ton. Die Kerngeschichte ist die tödliche Krebserkrankung ihrer Freundin – die Ich-Erzählerin und Schriftstellerin wird diese beim Sterben begleiten, ihr sogar bei einer möglichen Sterbehilfe beistehen. Gemeinsam ziehen sie in ein schönes Gästehaus, reden und lachen, schauen Filme und philosophieren über ihr vergangenes Leben und kommen sich so nahe wie noch nie.

„In diesen Augenblicken fühlte ich, dass sie für mich ebenso ein Trost war, wie ich es für sie sein sollte. Hin und wieder drückte sie meine Hand, ohne etwas zu sagen – ohne etwas sagen zu müssen –, doch es war, als hätte sie mein Herz gedrückt.“ S. 182

Nebenschauplätze in diesem weisen und philosophischen Roman sind die vielen Anekdoten, Begegnungen und Gedanken der Erzählerin. So trifft sie bei einem Vortrag über die Hoffnungslosigkeit der Menschheit in Zeiten der Klimakrise auf ihren Ex-Freund, sie denkt über ihre ältere Nachbarin nach, die ständigen Betrüger-Anrufen ausgesetzt ist oder lässt eine Katze reden, die in einem Mülleimer gelandet ist, aber wieder ein Zuhause gefunden hat. Überall lässt Nunez literarische oder filmische Bezüge einfließen, seien es Klassiker, Krimi-Szenen oder Zitate wichtiger Denker und Schriftsteller. So stammt der Originaltitel „What are you going through“ von der französischen Philosophin Simone Weil.

Wie gehen wir im Angesicht des Todes mit unserem Leben um? Wer ist am Ende für uns da, hört zu und stellt empathische Fragen? Was zählt wirklich? Neben den Hauptthemen Sterben und erfülltes Leben, fließen auch teils humorvolle Überlegungen zum Älterwerden, Einsamkeit, Vergebung, Beziehungen, Freundschaften sowie am Ende auf der metafiktionalen Ebene über die Literatur und das Schreiben in den Roman mitein. Und stets fügen sich den eher schweren und melancholischen Themen zwischenmenschliche Begegnungen, präzise Beobachtungen oder kluge Reflektionen/Gespräche ein, die dem Ganzen eine ironisch-warme Leichtigkeit geben.

Es ist kein Roman mit großem Handlungsstrang und trotzdem passiert gedanklich sehr viel – die Intellektuelle und Susan-Sontag-Bekannte Sigrid Nunez regt mit „Was fehlt dir“ tief zum weiteren Sinnieren und Philosophieren über existentielle Themen an, auch wenn laut der Autorin keine Sprache gut genug sein kann, um die vergangene Realität präzise auszudrücken. Ein scharfsinniger Roman über die Freuden, Leiden und Endbarkeit des Lebens.

„Aber irgendjemand hat einmal gesagt, dass es zwei Sorten von Menschen gibt, die unterschiedlich auf das Leiden anderer reagieren: Die einen denken: Das kann mir auch passieren. Die anderen denken: So etwas wird mir nie passieren. Die einen helfen uns, durchzuhalten, die anderen machen uns das Leben zur Hölle.“ S. 146