Eine verschlossene Tür in einem vertrauten Zimmer - Familiengeheimnisse

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lesemöwe Avatar

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Der erste Satz in dem Roman "Was ich euch nicht erzählte" von Celeste Ng ist unvermittelt schockierend: "Lydia ist tot" - der Leser wird mit einer brachialen Kraft mit dem zentralen Thema des Romans konfrontiert. Lydia ist eines der drei Kindern der Familie Lee. Fortan wird nichts mehr im Leben der Familie sein, wie es war, und für alle geht die Suche nach Antworten los, warum das, was passiert ist, passieren konnte.

Dann der zweite Satz:
"Aber das wissen sie noch nicht. Am 3. Mai 1977 um halb sieben Uhr morgens weiß niemand etwas außer der harmlosen Tatsache: Lydia kommt zu spät zum Frühstück."
Auch dieser Satz ist ein besonderer, denn der Erzähler deutet etwas an, was die Familie aber noch nicht weiß. Die gewählte Erzählperspektive unterstreicht den Inhalt des Romans, denn der Erzähler weiß etwas, was die Familie zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß.

Aber das wissen sie noch nicht. Die Familie scheint viel von der Tochter und Schwester nicht gewusst zu haben. Das zeigen verschiedene Beispiele auf den ersten Seiten der Leseprobe:

- "Marilyn dachte nicht daran, dass sie die ersten Schritte ihrer Tochter verpasst hatte oder wie groß sie geworden war. Und sie fragte sich auch nicht: Wie konnte mir das entgehen?, sondern: Was hast du mir noch verheimlicht?" (Seite 10).
- "Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre sie in einem vertrauten Zimmer auf eine verschlossene Tür gestoßen: Lydia, obwohl noch klein genug, um auf dem Arm gehalten zu werden, hatte bereits Geheimnisse." (Seite 10).
- "Lydia hat nie richtige Freundinnen gehabt, aber das wissen ihre Eltern nicht" (Seite 21).
- "Aber jetzt wird ihm klar, dass sie seit Jahren weder Karen noch Pam oder Jenn angerufen hat. Er denkt an die langen Nachmittage, als alle glaubten, sie wäre zum Lernen in der Schule geblieben. Gähnende Zeitlücken, in denen sie überall hätte sein, alles Mögliche hätte tun können." (Seite 23 f.)

Und der Titel "Was ich euch nicht erzählte?" Bezieht er sich auf Lydia? Passen würde es, da die o.g. Beispiele deutlich machen, dass sie viel vor ihrer Familie geheimzuhalten schien. Umgekehrt ist der Erzähler in der Geschichte kein Ich - Erzähler.

Atmosphärisch dicht, erzähltechnisch raffiniert, inhaltlich geheimnisvoll.
Dazu der gut aufeinander abgestimmten Anfang unddn das Ende der Leseprobe: "Lydia ist tot." (Seite 7) und "Am frühen Donnerstagmorgen, kurz nach Tagesanbruch,
durchsucht die Polizei den See und findet sie" (Seite 29).

Ich möchte den Roman unbedingt weiterlesen!