Das verhängnisvolle Ungesagte

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„Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht.“
Mit diesen Worten beginnt Celeste Ngs Debut Roman über die chinesisch-amerikanische Familie Lee, die in Ohio lebt. Die Leiche der 16 jährigen Lydia wird im Sommer 1977 in der Nähe eines Sees gefunden. Die Ermittlungen sprechen für Selbstmord. Für die Eltern der strebsamen und schüchternen Lydia unvorstellbar. Aber in diesem Sommer trieb auch der Mörder Son of Sam sein Unwesen. Was geschah also wirklich mit Lydia?

Der Roman beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Beantwortung dieser Frage, sondern mit der Familie und das Leben der Eltern und Lydias Geschwister. Die Lees sind eine nach außen perfekt erscheinende Familie, die wir aber durch den Tod Lydias und Rückblicke in die Vergangenheit näher kennenlernen. James, ein chinesischer Einwanderer und Geschichtsprofessor, machte seit Kindertagen Erfahrungen mit Rassismus und kämpfte um Anerkennung und Integration in der amerikanischen Gesellschaft. Die Mutter Marilyn, eine blonde blauäugige Amerikanerin, musste ihren Traum Ärztin zu werden angesichts des damals vorherrschenden Patriarchalismus und auch ihrer Familie zuliebe zurückstellen. Durch Lydia erhoffen sich die Eltern ihre unerfüllten Wünsche und Träume verwirklichen zu können. Dabei ging Marilyn besonders streng vor, indem sie für das damals kleine Mädchen wissenschaftliche Bücher, anstelle einer altersangemessen Lektüre vorsah. Es wird deutlich, dass sich alles um das Lieblingskind Lydia dreht, wobei Nathan und Hannah auf der Strecke bleiben. Nathan weiß vieles über Lydia, was ihre Eltern nicht einmal erahnen. So hat sie nie Freundinnen gehabt, denn ihre vermeintlichen Freunde rufen sie lediglich für Hausaufgabenhilfen an. Ebenso weiß nur er von Lydias heimlichen Freund, den Nachbarsjungen Jack. Sein Verhalten ist so merkwürdig, dass Nathan ihn verdächtigt. Er verrät ihre Geheimnisse aber auch nicht, als die Polizei mit der Familie eine Liste der Freunde aufstellt. Und dann gibt es noch die jüngere Schwester Hannah, die sehr aufgeweckt, aber so gut wie unsichtbar für die Familienmitglieder ist. Daher ist sie unsicher, ob sie all ihre gemachten Beobachtungen mit jemanden teilen soll.
Ng beschreibt die Familie, ihre Beziehungen und Emotionen sehr detailliert, sodass der Leser alles über ihre inneres, aber auch äußeres Wesen lernt. Mir taten die Kinder sehr leid, denn durch die elterlichen Erwartungen bleiben ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte unausgesprochen. Lydia tut wie ihr geheißen und traut sich nicht ihren eigenen Weg zu gehen. Der Titel „Was ich euch nicht erzählte“ bezieht sich auf all das Ungesagte, welches dazu führt, dass niemand sieht, was im Inneren der Kinder wirklich vorgeht und wie sehr sie leiden. Nur Nathan versucht dem zu entfliehen und möchte ein Studium in Harvard beginnen. Nicht nur die Probleme in der Familie machen den Kindern aber zu schaffen, sondern auch der noch immer bestehende Rassismus, der in vielen Situationen unterschwellig mitschwingt.
Es handelt sich um einen Roman, der zum Nachdenken anregt, da die Geschichte glaubhaft und mitreißend erzählt wird. Die scheinbar perfekte Fassade der Familie bröckelt mit jeder weiteren Seite. Die Autorin greift dabei recht selten auf die direkte Rede zurück, sodass die vielen unausgesprochen Worte der einzelnen Familienmitglieder schließlich zu der Tragödie geführt haben. Was jedoch mit Lydia geschah, bleibt für die Familie Lee ungewiss, denn nur der Leser erfährt die wahren Hintergründe. Ein weiterer trauriger Aspekt, der unter die Haut geht.