Ein wahres Meisterwerk der Erzählkunst!

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mrsamy Avatar

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„Lydia ist tot.“ Mit diesem eindrücklichen Satz beginnt der Roman „Was ich euch nicht erzählte“ von Celeste Ng. Gleich zu Beginn wird so deutlich, dass es sich nicht um eine normale Vermisstenstory handelt, bei der man bis zuletzt hoffen und bangen kann, ob die Verschwundene nicht doch wieder auftaucht. Alle Hoffnungen sind zerstört und in den Mittelpunkt rücken die Fragen: Wie und warum konnte es zu diesem Unglück kommen? Wo liegen die Ursachen? In ihrem Roman zeichnet Celeste Ng ein meisterhaftes Porträt einer anfänglich perfekt scheinenden Familie im Amerika der beginnenden 1980er Jahre: der Lees. Vater James – Amerikaner und Sohn chinesischer Einwanderer – ist als Universitätsprofessor an einem kleineren College tätig. Seine Frau Marylin kümmert sich um den Haushalt und ihre drei Kinder. Dabei wollte sie als junge Frau, gegen alle Widerstände der Zeit, Ärztin werden, entschied sich aber letztlich doch für die Familie. Nathan, ihr ältester Sohn, interessiert sich vor allem für Astronomie und wird bald ein Studium in Harvard beginnen. Hannah, die Jüngste, wird kaum von ihren Geschwistern und Eltern wahrgenommen. Sie ist wie ein stiller Schatten, versteht es aber meisterlich zu beobachten und die stillen Schwingungen innerhalb der Familie wahrzunehmen. Und dann ist da noch Lydia: das Lieblingskind der Eltern, gerade 16 Jahre alt geworden. Nach außen scheint alles perfekt zu sein, doch vor allem James und Marylin hadern und das Verschwinden Lydias, wenig später ihr tot, reißt Gedanken auf, von denen beide dachten, sie wären längst verstummt …

Ng zeigt in ihrem Roman meisterhaft, wie viel unter der Oberfläche schwellen kann und wohin es führt, wenn Menschen Wichtiges ungesagt lassen. Was passiert, wenn wir nur in Annahmen leben, was der andere denkt und will, wenn wir uns selbst unterdrücken. Die Handlung geschieht in zwei Erzählsträngen: Einerseits entführt sie den Leser in die Vergangenheit vor dem Unglück, andererseits in die Gegenwart nach dem Verschwinden Lydias. Die Charaktere sind allesamt klar umrissen und während man mit dem Leben von James, Marylin, Lydia und Nathan hadert, entwickelt sich vor allem eine zarte Verbundenheit zur kleinen Hannah, die im Gegensatz zu den anderen ein Gespür für das Ungesagte hat, gerade weil sie eigentlich nie von der Familie wahrgenommen wird. Seite um Seite versteht der Leser immer mehr, wie es zu dem Unglück kommen konnte, welche ungesagten Dinge vorausgegangen sind und welches Leid sie letztlich in jedem Einzelnen auslösen. Vielleicht ist dieser Roman auch eine Mahnung, mehr seinem Innersten Ausdruck zu verleihen? Dies zumindest ist ein schöner Gedanke, bei all dem Bedrückenden, was hier offengelegt wird. „Was ich euch nicht erzählte“ muss in jedem Fall zu den ganz großen Romanen 2016 gezählt werden. Ein wahres Meisterwerk der Erzählkunst!