Großartiges Psychogramm einer amerikanischen Familie der Siebzigerjahre

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
nordlicht Avatar

Von


Kurzbeschreibung (Quelle: amazon)
"Lydia ist tot." Der erste Satz, ein Schlag, eine Katastrophe. Am Morgen des 3. Mai 1977 erscheint sie nicht zum Frühstück. Am folgenden Tag findet die Polizei Lydias Leiche. Mord oder Selbstmord?
Die Lieblingstochter von James und Marilyn Lee war ein ruhiges, strebsames und intelligentes Mädchen. Für den älteren Bruder Nathan steht fest, dass der gutaussehende Jack an Lydias Tod Schuld hat. Marilyn, die ehrgeizige Mutter, geht manisch auf Spurensuche. James, Sohn chinesischer Einwanderer, bricht vor Trauer um die Tochter das Herz. Allein die stille Hannah ahnt etwas von den Problemen der großen Schwester. Was bedeutet es, sein Leben in die Hand zu nehmen? Welche Kraft hat all das Ungesagte, das Menschen oft in einem privaten Abgrund gefangen hält? Nur der Leser erfährt am Ende, was sich in jener Nacht wirklich ereignet hat.

Autorin (Quelle: amazon)
Celeste Ng (sprich: Ing) wuchs auf in Pittsburgh, Pennsylvania und in Shaker Heights, Ohio. Ng studierte in Harvard und machte ihren Master an der University of Michigan. Sie schrieb Erzählungen und Essays, die in verschiedenen literarischen Magazinen erschienen und mit dem Hopwood Award und dem Pushcart Prize ausgezeichnet wurden. 'Was ich euch nicht erzählte' ist ihr erster Roman, ein New York Times-Bestseller, der, vielfach prämiert, in 20 Sprachen übersetzt wurde und auch verfilmt wird.

Allgemeines
Titel der Originalausgabe: "Everything I never told you", ins Deutsche übersetzt von Brigitte Jakobeit
Erscheinungstermin: 27.05.2016 bei der dtv Verlagsgesellschaft als Hardcover mit 288 Seiten
Gliederung.: Portrait der Autorin - Anmerkung zum Roman - zwölf Kapitel
Erzählung in der dritten Person aus wechselnden Perspektiven
Handlungszeit und -ort: Gegenwartshandlung 1977 mit Rückblenden in die Vergangenheit, Middlewood / Ohio

Zum Inhalt
Im Mittelpunkt des Romans, dessen übergeordnete Handlung im Jahr 1977 in einer amerikanischen Kleinstadt spielt, steht die binationale Familie Lee: James Lee hat es als Sohn armer chinesischer Einwanderer zum Professor am College gebracht, seine amerikanische Frau Marilyn, deren Leidenschaft den Naturwissenschaften gilt, hat ihre beruflichen Ambitionen aufgegeben und widmet sich ihren drei Kindern Nath, Lydia und Hannah. Sie fühlt sich allerdings von den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten nicht ausgefüllt. Als der Tod ihrer Mutter, die sie immer in die Rolle des "Hausmütterchens" zu drängen versuchte, Marilyn aufrüttelt, nimmt eine unheilvolle Entwicklung ihren Anfang, die zehn Jahre später in eine Katastrophe mündet.

Beurteilung
Die Handlung des Romans setzt im Frühjahr 1977 ein, als die scheinbar so wohlgeordnete Welt der Familie Lee aus den Fugen gerät. Die sechzehnjährige Lydia ist verschwunden und wird zwei Tage später tot aufgefunden. Während ihr Vater seine Trauer in einer Affäre zu ertränken versucht, glauben Marilyn und Nath an ein Fremdverschulden, obwohl sich infolge der polizeilichen Ermittlungen keinerlei Hinweise darauf ergeben. Lediglich das Nesthäkchen, die elfjährige Hannah, die neben ihrer von den Eltern stets bevorzugten Schwester Lydia fast schon ein außenstehender Beobachter ist, durchschaut die verhängnisvollen Unterströmungen im Familiengefüge weitgehend. Die Erzählung ist auf verschiedenen zeitlichen Ebenen angesiedelt. Die Ereignisse des Sommers 1977 werden im Präsens geschildert und machen den Leser zum Augenzeugen der Handlung. Die Rückblicke in die Vergangenheit sind im Präteritum gehalten und reichen bis in die Kindheit von James und Marilyn zurück. Dabei wird offensichtlich, wie sehr die Prägung der Eltern in ihrer eigenen Jugend unheilvollen Einfluss auf das spätere Familienleben nimmt. James, der aufgrund seiner asiatischen Herkunft nie richtig dazugehörte, wünscht sich für seine Kinder nichts sehnlicher als die komplette soziale Integration in einen großen Freundeskreis. Die begabte Marilyn, die ihren beruflichen Ehrgeiz nie ausleben konnte, fürchtet nichts mehr, als dass ihre geliebte Tochter Lydia nicht in dieselbe Falle tappt und ihr Leben als Hausfrau vergeudet. Nach den Lebensvorstellungen der Tochter fragt keiner der beiden Elternteile.
Äußerst eindrucksvoll schildert die Autorin, wie Eltern durch Projektion ihrer eigenen Defizite und Wünsche auf ihr Kind dessen Leben entgegen bester Absichten komplett zerstören können.
Der Leser erhält durch die aus Lydias Perspektive geschilderten Kapitel den Einblick in Lydias Psyche, der ihren Eltern nie zuteilwird, da es dem Mädchen nicht gelingt, gegen seine Eltern aufzubegehren, wodurch es sich in ein Lügengespinst flüchten muss und in die Isolation getrieben wird.
Der Sprachstil ist anschaulich und niemals pathetisch, dennoch ist der Leser erschüttert und empfindet tiefes Mitgefühl für Lydia.
Aufgrund der häufigen Wechsel von einer Zeitebene zur anderen erfordert die Lektüre Konzentration, auch die inhaltlich "schwere Kost" lässt es ratsam erscheinen, sich für die Lektüre dieses nicht allzu umfangreichen Romans Zeit zu nehmen.

Fazit
Ein ausgezeichnetes Psychogramm einer amerikanischen Familie der Siebzigerjahre, großartig geschrieben und lange im Gedächtnis haftend! Besonders für Eltern unbedingt empfehlenswert!