Sie wollten doch nur ihr Bestes....

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"Was ich euch nicht erzählte" ist ein bedrückendes Buch. Es erzählt von der amerikanisch-chinesischen Familie Lee, deren Teenager-Tochter Lydia eines Tages tot aufgefunden wird. Warum sie gestorben ist und wer möglicherweise daran schuld ist, bringt Autorin Celeste Ng dem Leser in Rückblicken nahe. Ich weise vorsorglich auf *Spoiler* hin, da ich nicht weiß, ob ich das Buch ohne sie rezensieren kann.

Der Leser erfährt vom Kennenlernen der Eltern Marilyn und James. Sie eine Amerikanerin, er ebenso, doch mit dem Unterschied, dass seine chinesischen Eltern einst in die USA auswanderten. Sie treffen sich im Jahr 1957 und es wird erzählt, wie sie trotz aller Widrigkeiten (Marilyns Mutter war z. B. strikt gegen die Verbindung) zueinanderfanden, heirateten und Kinder bekamen. Auch Lydias Geschwister Nathan und Hannah kommen zwischendurch zu Wort, ihre Sicht auf die Geschichte macht das Geschehene ebenso deutlich wie die Vergangenheit der Eltern. Und auch Lydias Weg bis zu ihrem Verschwinden wird beleuchtet. Langsam kristallisiert sich heraus, dass Lydias Eltern sich für ihre Tochter das wünschen, was ihnen verwehrt geblieben ist. Die Mutter, die ihre Karriere als Medizinerin für ihren Mann und ihre Kinder aufgegeben hat, will nicht, dass ihre Tochter "nur" Hausfrau und Mutter ist, während der Vater vor allem möchte, dass Lydia "dazu gehört", viele Freunde hat und überall beliebt ist - etwas, das er nie hatte, fühlte er sich doch immer als Außenseiter. Ausgehend von den Eltern sind diese Wünsche nur allzu verständlich, leider merken sie in ihrem Eifer nicht, wie sehr sie Lydia unter Druck setzen. Lydia verändert sich im Scheinwerferlicht der elterlichen Aufmerksamkeit, Trost findet sie zunächst nur bei ihrem Bruder Nath. Dem geht das mangelnde Interesse der Eltern ebenso nahe, wie Lydia das "zu viel" an Interesse und dass, obwohl Nath außergewöhnlich gut in der Schule ist und im Laufe der Geschichte sogar eine Einladung nach Harvard bekommt. Beachtung findet er dennoch nur halbherzig. "Doch ehe er ein Wort sagen konnte, tapste Lydia die Treppe herunter, und die Aufmerksamkeit seiner Mutter schwebte davon und landete auf Lydias Schultern." So ist es die ganze Geschichte über. Die jüngste Tochter Hannah wird sogar oft buchstäblich übersehen. Furchtbar fand ich die Szene, in der Mutter Marilyn den Tisch für sich und James sowie Nath und Lydia deckt und erst, als Hannah ins Zimmer tritt, fällt ihr wohl wieder ein, dass sie drei Kinder hat. Mehr als einmal hat mir die Beschreibung dieser äußerlich so intakten, liebevollen Familie, die im Inneren durch ganz eigene Mechanismen zusammengehalten wird, die nach und nach offengelegt werden, eine Gänsehaut beschert.

"Was ich euch nicht erzählte" ist kein Wohlfühlbuch, nur am Ende ist ein kleiner Hoffnungsschimmer zu erkennen. Die Bezeichnung "literarischer Thriller", wie auf der Umschlagrückseite zu lesen ist, trifft es dabei sehr genau. Celeste Ng schreibt eindrücklich und mit einer besonderen Poesie: "Die echten Sterne glitzerten wie Pailletten. So sieht Unendlichkeit aus, dachte sie, und ihre Helligkeit überwältigte sie wie tausend Nadelstiche in ihrem Herzen." Der Roman klingt noch lange nach, macht nachdenklich und traurig. Empfehlenswert! Auch wenn die Inhaltsangabe vielleicht nicht jeden anspricht, kann ich nur dazu raten, "Was ich euch nicht erzählte" zu lesen. Ich hätte das Buch vielleicht auch nicht gelesen, hätte ich nicht einen Blick in die Leseprobe geworfen, die schon einen sehr guten Eindruck vom Buch vermittelt.