Ein bewegendes Stück DDR Geschichte

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elke seifried Avatar

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„Verstehst du jetzt, warum ich immer nach verlorenen Orten suche? Nirgendwo anders kann man so deutlich fühlen, wie vergänglich alles ist. Das Gute und das Schlechte. Das ist irgendwie traurig, aber eben auch ungeheuer tröstlich.“

Millas Hobby ist es nach Lost Places zu suchen und so findet sie abseits der Wanderwege im Thüringer Wald einen überwucherten Keller. Sofort packt sie der Eifer, sollte sie tatsächlich die erste sein, das gäbe den Post in ihrer Internetgruppe schlechthin. Das Schloss an der Falltür ist schnell geknackt und schon als sie mutig die Stufen hinabsteigt, spürt sie, dass das hier etwas ganz besonders ist. Sie befindet sich im Vorratskeller eines Hotels namens Waldeshöh, Geschirr, Marmelade und sogar noch alte Schulhefte befinden sich dort wohl behalten unter der Erde. Eines davon von einer Christine Dressel, ob sich die noch finden lässt?

Als Leser darf man sich mit Milla auf die Suche begeben. Man darf die Familie kontaktieren und stößt dabei zunächst einmal auf Ablehnung. Nur Christine scheint bereit zu sein, ein Türchen zum alten Familiengeheimnis zu öffnen. Die beiden freunden sich an und plötzlich ist für Milla nicht mehr die Hammerstory um einen neuen Lost Place wichtig, sondern die Erinnerungen und das Loslassen von längst Vergangenem, so schmerzlich es auch sein mag. Man begleitet die beiden, begibt sich auf Spurensuche, sucht längst vergessene Orte auf, kontaktiert alte Freunde und Bekannte und versucht Zeugen zu gewinnen, um das Unrecht beweisen zu können, was damals passiert ist.
Die Erzählung im Heute wechselt sich kapitelweise mit Rückblicken ab, die von der Geschichte des Hotels und der Familie Dressel berichten, beginnend mit dem Jahr 1945. War das um 1908 erbaute Jugendstil Hotel ursprünglich Ziel wohlhabender Kurgäste, wurde es im zweiten Weltkrieg für die Kinderlandverschickung genutzt und lag dann nach anfänglich amerikanischer und später russischer Besatzung direkt im Sperrgebiet als die innerdeutsche Grenze entstand, keine Zugangsgenehmigung für Gäste und immer mehr Einschränkungen.

Ich bin bzw. war bisher nicht der große Fan von Lost Places, aber Milla war mir sofort sympathisch und vor allem über ihren pubertären Sohn, der die Welt retten will, habe ich mich sehr amüsiert. Der angenehm lockere Sprachstil, der einen auch immer wieder schmunzeln lässt, hat sein Übriges dazu getan, dass ich mich von Anfang an gut unterhalten gefühlt habe, auch wenn mich die Geschichte dann so richtig erst nach und nach gepackt hat. Was ist mit dem Hotel letztlich geschehen, warum steht nichts mehr, was ist das Familiengeheimnis, werden sie Zeugen finden, wird die Familie ihren Besitz zurückbekommen? Das waren die Fragen, die mich immer mehr gefesselt und gebannt lesen haben lassen. Zudem haben mich die Ungerechtigkeiten, von denen rückblickend erzählt wird und mit denen versucht wurde, die Familie aus dem Hotel zu verdrängen, kein Strom, kein fließend Wasser, keine Postzustellung, keine Schulbushaltestelle mehr,… sehr bewegt. Auch darüber hinaus gab es bei der Zeugensuche im Jetzt viele bewegende Szenen, wie z.B. wenn sich ein ehemaliger Mitarbeiter der Stasi folgendermaßen äußert: „Moment ich hab bloß ein paar Akten geschrieben und sie dann vernichtet. Hat sich sozusagen aufgehoben.“, oder eine ehemalige Schulkameradin sich mit den Worten, „Die haben gesagt, wer mit dir spricht, dem geht es genauso wie euch, der wird abgeholt und weggebracht.“, und „Ich bin gelobt worden für das, was ich mit dir gemacht hab. Du musst wissen, sonst wurde ich nie gelobt.“, versucht sich dafür zu entschuldigen, dass sie Christine das Schulleben zur Hölle gemacht hat.

„Die Toilettenbecken standen ohne Trennwand ganz dicht zusammen, und es gab vorgeschriebene Zeiten, zu denen sie sich alle nebeneinander darauf hocken mussten. Alles sollten sie nach Plan und gemeinsam machen: essen, schlafen, basteln.“, sind Tante Elviras Beschreibungen des Kindergartens in den sie nie gerne ging. Ich bin im Westen aufgewachsen, war zur Zeit des Mauerfalls noch ein Kind und wusste lange nicht viel über das Leben in der ehemaligen DDR. Mein Interesse ist erst in letzter Zeit gewachsen und die Autorin gibt mit ihrem bewegenden Roman einen tollen Einblick in das Unrecht, das den zwangsumgesiedelten Menschen angetan wurde und auch in deren normales Alltagsleben. Darüber hinaus werden auch die Ängste, die die Menschen geprägt haben, und die nicht mit dem Mauerfall verschwunden sind, angesprochen, was mir sehr gut gefallen hat.

Ich war mit Milla, die ihre Steinzeitdiät schon mal für ein gutes Essen für beendet erklärt und die einmal benutzte Yogamatte unter dem Bett hortet, sofort auf einer Wellenlänge. Ich habe mich riesig gefreut, dass sie den Keller nicht für eine Story verbrät, sondern der Familie das Geheimnis lässt. So wie sie hat mich die Geschichte immer mehr gefesselt. Auch mit Christine, die sichtbar mit ihrer Vergangenheit kämpft, wurde ich sofort warm. Über Millas Sohn Neo konnte ich viel schmunzeln. Respekt auch vor seinem Engagement und seiner selbstlosen Hilfsbereitschaft, beides hat er sicher von der Mama geerbt. Aber auch alle anderen sind abwechslungsreich, individuell und gelungen gezeichnet. Verdrängen, nicht vergeben können, aufgeschlossen, … da ist alles vertreten.

Alles in allem ein toller, bewegender Einblick in ein tragisches Stück DDR Geschichte, der auf jeden Fall noch fünf Sterne verdient.