Eine literarische Zeitreise

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Hildegard E. Keller erzählt in ihrem Roman über Hannah Arendt aus deren Leben. Während die inzwischen betagte Dame ihren Sommer in einem Gasthof im Tessin verbringt, sich mit Honigbroten und Vogelgezwitscher die Tage versüßen lässt, reisen ihre Gedanken durch Zeit und Raum. Einerseits nach New York, wo sie nach ihrer Flucht aus Deutschland gelebt und gearbeitet hat, andererseits nach Israel, wo sie als Prozess-Beobachterin dem Eichmann-Prozess beiwohnte. Auch viele andere Orte und Personen besucht Hannah in diesem Sommer im Geiste. Dabei lässt sie ihre eigenen Gedanken Revue passieren, aber auch Erlebnisse und neue Bekanntschaften spielen eine Rolle.

Der Aufbau des Buches mit zwei Zeitschienen ist nicht ungewöhnlich: Immer abwechseln erzählen die Kapitel entweder aus der Gegenwart, in der Hannah hochbetagt einen Sommer im Tessin verbringt, oder aus einem früheren Zeitpunkt in ihrem Leben, sei es in New York, Israel oder anderswo. Allerdings bedient sich die Autorin einem Collagen-Stil, bei dem sie Erinnerungen, Briefe, Dialoge und weitere Elemente miteinander kombiniert, ohne dass die einzelnen Passagen aufeinander aufbauen oder gar miteinander in Verbindung stehen; teilweise sind die verschiedenen Abschnitte nur lose miteinander verbunden. Dadurch kommt man nicht wirklich in einen Lesefluss, bei dem man einem roten Faden, einer Handlung folgen kann, sondern man muss sich als Leser treiben lassen, und die Entwicklung jedes neuen Kapitels annehmen, ohne zu wissen was einen erwartet. Das ist einerseits einem Spannungsaufbau abträglich, andererseits wird es dadurch schwierig, einen Kontext entstehen zu lassen, in den sich die folgenden Abschnitte einbetten lassen. Trotzdem machen die verschiedenen Kapitel Freude, da die Autorin einen sehr poetischen und ausdrucksstarken Schreibstil verwendet, der beim Lesen überrascht und gleichzeitig wirkungsvolle Bilder im Kopf des Lesers entstehen lässt. Dadurch entsteht eine gewisse Ehrfurcht beim Lesen, aber leider weder Spannung noch Begeisterung.
Was mir darüber hinaus schwer fiel, war die Einordnung des Buches: Zwar wird aus dem Leben Hannah Arendts erzählt, an deren historischer Biographie sich die Autorin orientiert, allerdings wird auch ausdrücklich darauf hingewisen, dass es sich bei dem Roman um ein fiktives Werk handelt. Entsprechend sind nicht alle Figuren, Begegnungen und Entwicklungen hisorisch fundiert - dadurch bin ich mir als Leserin unsicher, inwiefern ich nach der Lektüre davon ausgehen kann, nun mehr über das Leben der tatsächlich existierenden Hannah Arendt zu wissen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Leser, die sich bereits ausführlich mit der Person Hannah Arendt, ihrem Werk oder ihrer Zeit beschäftigt haben, diesen Roman als interessante Ergänzung ihres eigenen Wissens sehen können. Für die große Mehrheit der Leser wird dies allerdings nicht zutreffen, sie werden das Buch stattdessen, wie ich, als zäh und etwas überladen wahrnehmen. Trotzdem bleibt mir "Was wir scheinen" als ungewöhnliches Buch in Erinnerung, dessen Lektüre sich lohnt - auch wenn sie dem Leser einiges an Durchhaltevermögen abverlangt.