Nach der Lektüre möchte man in die Schweiz ziehen...

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Die Schweiz scheint der Roman von Hildegard E. Keller über Hannah Arendt einem ja schon einmal näher zu bringen, aber schafft der Roman dies auch mit Arendt? Ja, definitiv nur die Frage ist unter welcher Prämisse.

Aber ganz zum Anfang zurück. Keller begleitet in ihrer fiktionalisierten Biografie Arendt auf eine letzte Reise ins Tessin 1975, kurz vor dem Tod Arendts. Dort lässt sie sie noch einmal ihr Leben ab 1940 in Erinnerungsepisoden Revue passieren. Wichtig an dieser Stelle: Arendt ist 1906 geboren! Das heißt, das Buch lässt die frühen Jahre der Autorin aus. Vermutlich da sich die Autorin stark auf Briefwechsel aus dem Nachlass stützt, welche eventuell erst ab der Zeit nach ihrer Flucht über Paris und Lissabon nach New York erhalten sind. Keller legt ihr dabei Gedanken in den Mund, die sie eventuell an anderer Stelle geschrieben oder gesagt hat, um eine Innenansicht dieser häufig zitierten Personen zu erschaffen.

Dies gelingt der Autorin wirklich sehr gut. Sie schafft einen Roman, der die Leser*innen in den Bann zieht und eine persönliche Sicht auf die Journalistin und Philosophin freigibt. Nun gibt es damit jedoch meines Erachtens ein bzw. zwei Probleme. Die Autorin setzt an vielen Stellen eine Grundkenntnis der Biografie Arendts bei den Lesenden voraus. Hat man diese nicht, und möchte sich durch diese Romanform erstmals an die Denkerin heranwagen, fehlen viele Hintergrundinformationen, um das Gelesene einordnen zu können. So werden zum Beispiel die Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen etc. Arendts in ihren Gedanken lange nur mit Vor- oder Spitznamen angesprochen. Bis man dann realisiert, dass es sich bei "Benji" um den Zeitgenossen Walter Benjamin handelt, vergeht zu viel Lesezeit. Bei diesem Beispiel ist dies noch einfach zu merken über die fast 580 Seiten hinweg. Bei all den anderen Karls, Kurts, Marys, Gertruds und so weiter verliert man einfach den Überblick. Da sich die Autorin wirklich ausgezeichnet in Arendt hineindenkt und den Roman tatsächlich so geschrieben hat, als ob Arendt sich selbst erinnert, ist dies nur nachvollziehbar, da unsere Erinnerung nun mal so funktioniert. Nur leider funktioniert dies für die Leser*innen nicht unbedingt. Wenn Keller hier also die Leser*innen nicht ganz abholen kann, so versucht sie es an anderen Stellen manchmal zu stark. Und dabei handelt es sich um meinen zweiten Kritikpunkt. Es existieren ein wenig zu häufig im Buch Dialogszenen, die nur dafür gemacht zu sein scheinen, Arendts Gedanken den Leser*innen zu erklären. Man merkt beim Lesen, dass diese einzelnen Gespräche in der geschriebenen Form stark konstruiert und künstlich wirken. Dadurch zieht sich ab der Hälfte das Buch dann doch manchmal ganz schön in die Länge.

Besonders in der Verbindung von fiktionalen Anteilen und überlieferten Quellen, in denen Keller die Gedankenwelt aber eben auch das Hadern Arendts heraufbeschwört (und nicht zu viele Weggefährten mit Vornamen auftauchen) ist das Buch am stärksten. Mir hat es definitiv Hannah Arendt näher gebracht, wodurch ich mich zur Biografie weiter belesen werde. Und ganz nebenbei hat der Roman ein Tessin in der Schweiz abbilden können, in welches man - wie von Arendt im Buch geplant - auch am liebsten gleicht umsiedeln möchte. Ein einfacher Einstieg in die Biografie Arendts wird einem hier also nicht ganz geboten, aber wer bereits die biografischen Eckpunkte kennt, wird viel Persönliches um Hannah Arendt entdecken können. Letztlich hervorzuheben ist die massive Rechercheleistung der Autorin und ihr Können dies in einen solch umfassenden Roman zu verarbeiten.