Was Hannah Arendt ist und scheint

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sapere_aude Avatar

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"Was wir scheinen" ist ein großes Buch, zu dem man vieles sagen könnte und und möchte. Es ist ein Buch über Hannah Arendt, über die Konsequenzen eigenständigen Denkens und auch ein Buch über den Ausmaß des Holocausts.

Das Buch schildert den Aufenthalt Hannah Arendts in Tegna im schweizerischen Tessin im Sommer 1975, der aufgrund ihres Todes am Endes des Jahres ihr letzter gewesen sein wird. Zu diesem Zeitpunkt hat Hannah Arendt bereits einen Herzinfarkt und viele ihrer Freunde und Weggefährten überlebt und zugleich eine internationale Berühmtheit und Anerkennung erlangt. Rückblickend und zwar immer im Wechsel mit Erlebnissen im Sommerurlaub blickt Arendt auf wichtige Lebensstationen zurück, beginnend mit der Ankunft in New York 1941 nach erfolgreicher Flucht vor den Nationalsozialisten. Kristallisationspunkt des Romans ist allerdings der Prozess um Adolf Eichmann in Jerusalem 1961, den Arendt für den New Yorker journalistisch begleitete und später zu ihrem wohl bekanntesten Buch "Eichmann in Jerusalem" machte. Viele Thesen des Buches und insbesondere die Darstellung Eichmanns als "banal Bösem" führten international zu heftigen Reaktionen und Debatten, Anfeindungen Arendts und dem Bruch mit alten Freunden.

Hildegard Keller hält sich in ihrer Schilderung weitestgehend an die Biografie Arendts und erwartet von den Leser/innen, dass sie mit den Vornamen ihrer Weggefährten etwas anfangen können. (Eine Erläuterung und Einführung wäre aber dem Roman und Gedankenfluss Arendts allerdings auch nicht angemessen.) Durchsetzt ist der Text mit Zitaten aus Werken, Briefen, Gedichten Arendts, die gesperrt gedruckt sind. Sie ordnen den Roman ein und geben ihm eine Schwere, erinnern aber auch an ein Hörspiel, in dem solche Zitate eingesprochen werden.

Der starke Fokus auf den Eichmannprozess ist dramaturgisch geschickt gewählt und inhaltlich begründet, lässt aber das philosophische Gesamtwerk Arendts etwas in den Hintergrund treten. Gleichwohl gelingt es Keller, viele Fragen herauszuarbeiten, wie etwa die nach der Unabhängigkeit des Denkens und den dafür zu zahlenden Preis, den Wert von Freundschaften und Begegnungen und der schwierige Spagat zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit oder gar Politik.

Das Buch ist aufwändig und schön gestaltet; man sieht ihm an, dass selbst kleinste Details durchdacht wurden. Leider ist das Lektorat nicht hundertprozentig sauber. Auch sind manche Passagen vielleicht etwas zu lang geraten.

Insgesamt aber eine außergewöhnliche Lektüre über eine außergewöhnliche Person, die hoffentlich nicht nur Philosoph/innen begeistern wird!