Ein Roman wie ein Spiegelkabinett

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Es ist der letzte Arbeitstag Ayamis in dem einzigen Hörtheater von Seoul. Am morgigen Tag soll es geschlossen werden. Aus einem Radio hört Ayami Stimmen und vor der Tür des Theaters droht ihr ein Mann, er wolle sie umbringen. Ihre Deutschlehrerin bittet sie außerdem, für einen bald in Korea ankommenden deutschen Dichter zu dolmetschen. Als Ayami jedoch mit dem Direktor des Theaters die Lehrerin besuchen will, ist diese verschwunden.

Schon der Versuch einer Inhaltsangabe wirkt fragmentarisch und unzusammenhängend. Bae Suahs Roman entzieht sich jeglicher einfachen Wiedergabe. Er ähnelt einem Traum, in dem die Protagonistin Geräusche hört, die sie eigentlich gar nicht hören kann, in dem Radios sich selbst anschalten und Busse ewig im Kreis fahren.

Es ist eine von Hitze und Dunkelheit geprägte Nacht, in der die Geschichte spielt. Weiß beleuchtete Gegenstände tauchen plötzlich in ihr auf. Ein Geschäft, eine Figur, eine Krähe, ein Fisch. Wie auf einer Bühne beleuchtet die Erzählung nur Bestimmtes, lenkt den Blick des Lesers und taucht alles andere in Schwärze.

​“Weiße Nacht” bewegt sich in einer verstörenden fieberhaften Welt, die keinen Boden zu haben scheint und in der alles möglich ist. Strukturen sind in ihr stets im Auflösen begriffen, denn die Grenzen von Realität und Fiktion verschieben sich ständig und gehen ineinander über. Es gibt keine Anfänge und keine Enden und somit ist auch Zeit nicht mehr linear zu verstehen. Stattdessen entsteht eine Erzählstruktur, die von Echos und Parallelen getragen wird. Es drängt sich der Eindruck eines Loops auf, einer komplexen Schleife, in der es zu Überlagerungen und Wiederholungen kommt. Der Roman selbst führt schon zu Beginn den Begriff des Klangschattens ein, der als selbstreflexiv verstanden werden kann, denn seine Szenen, Motive und Figuren ertönen und hallen an späterer Stelle im Roman nach.

​“Weiße Nacht” erzählt, so scheint es, unterschiedliche Versionen einer Geschichte, die sich allesamt miteinander verhaken und voneinander zehren. Identitäten und die Individualität der Figuren haben dabei keine Bedeutung mehr. Denn: “Alles verschwindet so schnell, wie es entsteht. Das gilt auch für Erinnerung. Es kann passieren, dass man aus seinem Haus tritt, zehn Schritte geht, sich umdreht und das Haus, das immer dort stand, nicht mehr existiert. Man findet es nie mehr. Das Gleiche kann auch mit Menschen geschehen.”

​Bae Suah hat einen außergewöhnlichen Roman geschrieben, der sich an die Grenzen der Literatur heranwagt. Unter seiner fieber- und traumhaften Atmosphäre lösen sich die Vorstellungen von Realität und Wirklichkeit auf. Was bleibt, ist eine wunderbar surreale Welt, die den Leser gefangen hält und ihn auch nach der letzten Seite des Buches nur schwer wieder loslässt.