Zwischen Traum und Realität

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lesestress Avatar

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„Ayami war die gegenwärtige und die zukünftige Ayami. Sie war beides und existierte gleichzeitig. […] Dies war das Geheimnis der gleichzeitigen Existenz von Nacht und Tag.“

„Weiße Nacht“ gleicht dem Blick in ein sich bewegendes Kaleidoskop: Formen und Schemen verschwinden ineinander, Raum und Zeit lösen sich auf, zerfallen. Die Figuren in diesen Welten ähneln sich – und unterscheiden sich bei genauer Betrachtung doch voneinander. Konstant bleibt hier nur die drückende Hitze Seouls, in dessen Straßen sich die Leben dreier Menschen (immer wieder?) miteinander verbinden. Es ist eine Geschichte von Doppelgänger*innen und Seelenverwandten, der Parallele zwischen Wirklich- und Unwirklichkeit, dem Zustand zwischen Wachen und Träumen. Bae Suahs erster Roman erschien bereits 2013 in Korea und wurde jetzt von Sebastian Bring ins Deutsche übertragen.

Die 28-jährige Schauspielerin Ayami arbeitet im einzigen Hörtheater in Seoul, das aufgrund schwindender Besucherzahlen nun schließen soll. An ihrem letzten Arbeitstag ist sie noch immer ohne Plan für die Zukunft und resümiert während ihrer Schicht ihr bisheriges Leben. Ihre Gedanken werden jedoch durch merkwürdige Vorkommnisse und surreale Beobachtungen unterbrochen und enden in einem Streifzug durch die überhitzte Nacht und den darauffolgenden (?) Tag. Danach verschwimmt alles miteinander und wie in einem einem flirrenden Fiebertraum, vermag es keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Fiktion zu geben.

In den Wirren dieser Geschichte steckt ein faszinierender Kern, den sich Lesende jedoch hart erarbeiten müssen. Bae Suahs Sprache ist schnörkellos, ihre Geschichte und der verwendete Aufbau dafür umso anspruchsvoller. Sinn und Absicht des Textes versteckt sie in repetitiven Metaphern, sie verzerrt Sinneswahrnehmungen und lässt die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen. Leider konnte ich nicht alle Teile dieses literarischen Kosmos nahtlos für mich zusammenfügen und blieb am Ende doch etwas ratlos zurück. Wer aber Sinn für das Surreale hat, sich auf Wiederholungen, Spiegelungen und Sinnestäuschungen einlassen kann, wird vielleicht Spaß an diesem Buch haben.