Das Leben rückwärts verstehen!

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rauschleserin54 Avatar

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Der Titel dieses Buches ist in verschiedenen Rottönen auf dem Cover auf weißem Untergrund gedruckt: Weit - Weg - Ist - Anders. Man kann ihn als Satz lesen. Man kann aber auch die einzelnen Worte lesen und ich finde genau darüber handelt dieses Buch. Man kann verschiedene Wege gehen und jeder kann anders sein!

Eindrucksvoll, tief berührend, mit Wortwitz und wunderschönen Momenten wird von der Autorin eine kurze Zeitspanne aus dem Leben zweier alter Damen um die 70 aufgezeigt.

„Edith kam mit sich überein, ihr Sterben genau zu beobachten. Sonst gab es ja wenig, mit dem sie sich hätte beschäftigen können, und das eigene Ableben verfolgen, quasi als einzige Zuschauerin einer einmaligen Uraufführung, das hatte was.“

Das beschreibt den intelligenten schwarzen Humor von Edith Scholz, einer der zwei Hauptfiguren, die in einer misslichen Lage nach einem schweren Sturz ihr Leben überdenkt. Sie muss sogar kichern, wenn sie Ausschnitte ihrer Ehe am inneren Auge vorbeiziehen lässt.

Oskar Mannstein, ein Briefträger alter Schule, der noch die Menschen hinter den Hausnummern kennt, rettet sie und sie muss nach einem Krankenhausaufenthalt in die Reha. Dort begegnet ihr
Christel Jakobi. Sie ist zwar etwas übergriffig, aber gutmeinend und freundlich. Unterschiedlicher können 2 Frauen um die 70 nicht sein, trotzdem werden sie kurze Zeit zu Verbündeten und gehen auf eine Reise......

Die Autorin mag ihre Figuren, jede hat etwas, das uns für sie einnimmt und etwas das uns nervt.
Trotzdem fiebert der Leser mit ihnen, ob der Coup gelingt. Und es ist schön, schon mal eine Vorausschau auf Situationen zu bekommen, die man nur erlebt und durchschaut, wenn man das Leben rückwärts verstanden hat.
Edith ist mir persönlich in ihrer authentischen, schroffen, großstädtischen, intelligenten, mit sich selbst zufriedenen Art und ihrem versteckten goldenen Herzen, näher.
Christel ist freundlich, angepasst, leicht zu manipulieren, gut situiert, großzügig und abhängig.

Sehr zum Schmunzeln gebracht hat mich auch Edith's grenzenlose Liebe zu ihrer Heimatstadt Berlin:

„Edith liebte alles. Die Mietshäuser mit den alten auf die Brandwand gemalten Werbungen, die hupenden Autos, die ruppig die Spuren wechselten, die von Miniermotten arg zerfressenden Kastanien, die Fußgänger, die ganz anders liefen als in Baden-Baden. Hier wurde nicht gemächlich flaniert, sondern gerempelt, geschubst und geeilt. Herrlich!“

Ja, da laufen vor des Lesers Augen ganze Filme ab, so fühlt und lebt Edith und das macht sie zu der,
die sie ist und Christel....

Eigentlich kommen alle Figuren in diesem wunderbaren Reisebuch – das Auge und die Seele jeweils betreffend – ganz gut weg, denn irgendwie bin ich traurig, als es zu Ende geht mit dieser
Geschichte. Sie sind mir ans Herz gewachsen und ich konnte einiges von ihnen lernen und habe noch Zeit etwas davon mitzunehmen. Das ist das Schöne, wenn es Romane über gelebte Leben gibt, sie inspirieren oder regen zum Reflektieren an und machen Mut, das so mancher Mensch im fortgeschrittenen Alter noch „Einiges“ vor sich hat. Danke Sarah Schmidt!

Ich vergebe gern 5 Lesesterne für die intensive, einfühlsame Betrachtungsweise, die liebevolle, klare Zeichnung der Charaktere und die wunderbaren Dialoge!