Ergreifende Familiengeschichte

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kleine hexe Avatar

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Eine großbürgerliche jüdische Familie Ende des 19 und während des 20 Jahrhunderts. Wenn diese Familie nicht ausgerechnet in Deutschland leben würde, wäre alles schön und gut. Aber wir wissen was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland geschah.
Denn außer den großen sozial-politischen Verwerfungen hat diese Familie auch ihre eigenen Spaltungen und Ablehnungen zu bestehen. Wer außerhalb der großbürgerlichen Normen lebt, wer auch nur strauchelt und sich wieder fängt, der wird verstoßen, enterbt, nicht mehr anerkannt. Die Großfamilie hat den Stab über diese Person gebrochen, nur heimlich halten einige Familienmitglieder noch Verbindung mit ihm aufrecht, die anderen wollen von ihm und seiner nicht standesgemäßen Ehefrau nichts mehr wissen. Interessanterweise wird der uneheliche Sohn aber akzeptiert, er wird eingeladen, nach dem Krieg nach Brasilien zu einer Cousine auszuwandern, aber die Mutter nicht. Sie wird immer noch nicht anerkannt, bleibt für immer eine Verstoßene. Es ist diese starre Haltung, die von Anna und Julius Reichenheim ausging, die überträgt sich auch in dritter Generation auf die Familienmitglieder. Keine Weltkriege, keine Wirtschaftskrise, kein Naziterror vermögen es, dass die Großfamilie anerkennt, was Marie für Heinrich ist und tut, dass sie sich seines unehelichen Sohnes annimmt, ihm eine liebevolle gute Mutter ist, die kleine Familie beisammenhält. Heinrichs Bruder Otto und seine Frau Susanne und seine Schwester Fifi halten zu ihm, Otto unterstützt ihn auch finanziell, aber sich öffentlich zu ihm bekennen? Fifi führt ein großbürgerliches offenes Haus in der Nähe, aber Marie und Heinrich werden nie eingeladen. Fifi trifft Heinrich manchmal, heimlich, in einem Café. Niemand darf wissen, dass sie in Verbindung stehen. „Aber Anna Reichenheim war unerbittlich, und die Geschwister und die Schwäger hatten sie abgeschrieben, das schwarze Schaf der Familie, dieser Bruder, der so lange in Amerika gewesen war, dass man ihn hatte vergessen können, und der nun wieder da war und störte, weil er auch jetzt nicht zu ihnen passte“ (S. 261) Die anderen Geschwister und ihre Familien setzen sich ab ins Ausland, Heinrich wird nicht einmal gefragt, ob er mit Marie und Heinz nicht auch fliehen wollen. Alle, bis auf Susanne, die an Fieber stirbt, überleben. Heinrich wird 1943 abgeholt, er stirbt in Ausschwitz. Man fragt sich, ob und was diese Familienmitglieder gelernt haben, aus den schrecklichen Zeitläufen.
„Wellenflug“ ist spannend zu lesen, teilweise fühlt sich das Buch wie ein Bericht an, Gefühle treten nur selten zu Tage, wie z.B. in einen Brief Heinrichs an seinen Vater, „…aber ich kann und will nicht, daß das Mädchen, das mich vor dem Untergang bewahrt hat, durch Umstände auf den Weg der Laster vielleicht wieder zurück gestoßen würde, aus dem ich sie befreit habe.“ (S. 142) Die Antwort des Vaters: er enterbt ihn mit der Begründung „…daß mein Sohn Heinrich einen unsittlichen Lebenswandel führt, indem er andauernd und wider meinem ihm ausgesprochenen Willen Beziehungen zu einer bescholtenen Frauensperson, der unverehelichten Stahmann unterhält“. (S. 142). Dabei war Marie es, die ihn von seiner Spiel- und Trinksucht abgebracht hat.
Nachdem Heinrich von den Nazischergen abgeholt wird, wird das nüchtern kommentiert: „Marie sah Heinrich nicht wieder“ (S. 315). Es gibt da auch nicht viel zu sagen. Außer dass Friedrich Entress, der Lagerarzt von Ausschwitz den Patienten, die nicht schnell genug wieder arbeitsfähig waren, mit Phenolspritzen ins Herz tötete. Sein Hippokratischer Eid galt nicht für Lagerinsassen.
Das Buch hinterlässt einen leicht bitteren Nachgeschmack. Weil der Starrsinn und der Hass niemals aufhören. Heinz wird vorgeworfen, nicht an der Front gewesen zu sein, obwohl er im Kriegsdienst in einer Munitionsfabrik in Frankreich im Einsatz war. Eine Nachbarin sagt zu Marie nach Kriegsende, „…sie habe doch Glück gehabt, dass sich ihre Männer vor dem Krieg hätten drücken können“ (S. 320). Wenn Ausschwitz bedeutet, sich vor dem Krieg gedrückt zu haben, ist das eine schreckliche Auslegung der Tatsachen.
Aber auch der unnachgiebige Eigensinn der Großfamilie Reichenmann erstaunt einen gegen Ende nicht mehr. Heinrich fährt zur Beerdigung seines Vaters, seine Frau darf nicht mit. Es sind eherne Familiengesetze, die kein Weltkrieg erschüttern kann.
Aber außer dem bitteren Nachgeschmack hinterlässt das Buch auch einen Eindruck tiefer Menschlichkeit und Liebe. Die Liebe zwischen Heinrich und Marie, und die Marie so richtig bewusst wird während sie auf dem Karussell „Wellenflug“ zusammen mit Heinrich fliegt, die innige Verbindung die Marie zu Heinz aufbaut, nachdem sie ihn aus dem Waisenhaus abholen, Heinz, der sich weigert, ohne der Mutter nach Brasilien aufzubrechen, es sind all diese Zeichen, die zeigen, das Gute überlebt trotz der schieren Allmacht des Bösen, im Makro- wie im Mikrokosmos des Lebens.