Mitreißende Familiengeschichte

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
juma Avatar

Von

Selten hat mich ein Buch so sehr bewegt, wie dieses. Constanze Neumann, mir bisher durch Reisebücher wie „Gebrauchsanweisung für Sizilien“ bekannt, hat sich auf ein neues Terrain gewagt: die Geschichte ihrer Vorfahren, eine Ahnenforschung der besonderen Art, hat sie in einem fiktiven Familienroman sensationell verarbeitet. Sie hat in diesem Roman nicht die bekannten bzw. von ihr herausgefundenen Fakten aneinandergereiht, sondern sich den unterschiedlichen Charakteren zugewandt. Es sind so einzelne Charakterstudien entstanden, die einen im Laufe der Geschichte fast glauben machen, man würde die Personen sehen, hören, fühlen, ja kennen.
Die große Familiengeschichte Reichenheim beginnt schon im 18. Jahrhundert, berichtet vom mühsamen Aufstieg der jüdischen Vorfahren zu geachteten Mitgliedern der deutschen Gesellschaft.
Teil I beginnt mit Anna, geboren 1856, die in einer angesehenen Tuchhändlerfamilie in Leipzig lebt. Schon zu Beginn lernt sie die Familie Reichenheim kennen, es ist eine Zeit, in der schon früh Verbindungen geknüpft werden für spätere Ehen. Erstes Leid erfährt Anna durch den Tod ihrer Schwester Henriette. Eine Reise nach Berlin verändert ihr ganzen Denken und Fühlen, das Palais Reichenheim scheint einem Märchen entsprungen. Die ganze Familie geht nach Berlin und Anna heiratet Adolph Reichenheim, den „Kränklichen“ der Familie. Anna wird Mutter, Gertrud, die erste Tochter ist wie ein Geschenk, besonders für Adolph. Aber das Glück währt nicht lang, Adolph stirbt und hinterlässt eine reiche Witwe mit Kind. Nur wenige Monate später macht ihr Julius Reichenheim einen Heiratsantrag. Ja, das ist es, wovon sie träumte, das Leben der Reichenheims zu führen. 1881 wird Sohn Heinrich geboren. Auf ihn setzt Anna all ihre Hoffnungen, aber es werden die anderen Söhne und Töchter sein, die diese Hoffnungen erfüllen. In Annas Augen ist Heinrich ein missratener Sohn, faul, frech, arrogant, später spielsüchtig, verschwenderisch, verschuldet und mit „schlechtem“ Umgang.
Und damit kommt der Teil II in Fahrt, betitelt mit „Marie“, die als Garderobenmädchen in Berlin ihr Geld verdient, nachdem sie aus dem ärmlichen Zuhause in Burg bei Magdeburg geflüchtet ist. Diese Marie ist für mich die eigentliche Hauptperson dieses Romans. Sie ist der „schlechte Umgang“, den Heinrich pflegt und sie wird wie er eine Ausgestoßene aus der herrschaftlichen Reichenheim-Dynastie. Heinrich ändert sich nicht und beide werden ein vollkommen anderes Leben leben, als die Familie. Was Marie an der Seite von Heinrich erdulden muss (will?), ist oftmals kaum zu ertragen. Und doch bleibt sie ihm treu, geht zu ihm nach Amerika, lässt sich betrügen und betrügt auch ihn. Immer im Hinterkopf den Wunsch nach einem gemeinsamen Kind. Als beide in den 20er Jahren wieder nach Deutschland gehen, verschlägt es sie nach Dresden. Dort entdeckt Marie das Ergebnis eines Seitensprungs von Heinrich: der 5jährige Heini wird von ihr aus dem Waisenhaus gerettet, sie nimmt ihn als ihr Kind in die Arme und zwingt Heinrich, endlich erwachsen und Vater zu werden. Marie wird von der Autorin so liebevoll und authentisch gezeichnet, wie man Frauencharaktere selten findet. Für mich ganz große Kunst.
Wie die Geschichte ausgeht, kann man schon ganz zu Beginn im Kapitel „Später“ erahnen.
Wer die edle Dame Anna sehen möchte oder das Palais Reichenheim, der möge googeln, Illustrationen fand ich im eBook leider keine. Was ich noch mehr bedauere, ist das Fehlen eines Stammbaums der Familie Reichenheim, das hätte beim Lesen geholfen, die vielen Verwandschaftsverknüfpungen ins Gedächtnis zu holen. In der Datenbank von Yad Vashem finden sich drei Einträgen zu Heinrich Reichenheim.
Fazit: fünf Sterne - unbedingt lesenswert, hervorragend recherchiert, großes Kino für den Kopf, ich könnte mir eine Verfilmung oder gar eine Serie im TV gut vorstellen!