Ein grandioser amerikanischer Gesellschaftsroman

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Kunststudent Jack und Psychologiestudentin Elizabeth treffen 1993 in Chicago aufeinander. Elizabeth stammt aus einer sehr alten und wohlhabenden Familie. Jack ist in den Great Plains von Kansas als Farmersohn aufgewachsen. Beide sind dem Korsett, der Lieblosigkeit und den Erwartungen ihrer Elternhäuser in die Anonymität der Großstadt entflohen. Man spürt von Beginn an, dass bedeutsame Ereignisse ihrer Vergangenheit im Dunkeln lauern, die ihre Tentakel ausstrecken und die Protagonisten bis in die Gegenwart hinein verfolgen. Sie können ihre Herkunft nicht verleugnen. Trotz aller Unterschiede verlieben sich Jack und Elizabeth ineinander. Sie zelebrieren ihre Liebe, scheinen füreinander bestimmt zu sein. Mit der Geburt von Sohn Toby bekommt die Beziehung allerdings erste Risse, die sich später im Kauf und der Ausgestaltung einer gemeinsamen Wohnung mit getrennten Schlafzimmern manifestieren. Als Leser begleiten wir Elizabeth und Jack über Höhen und Tiefen des Ehelebens über rund 20 Jahre.

Die Analyse dieser langjährigen Paarbeziehung stellt Nathan Hill in den Fokus seines Romans. Er tut das als stiller Beobachter. Wir dürfen den Protagonisten auf ihren Wegen folgen, die auch immer wieder Szenen aus ihren Herkunftsfamilien zeigen. Dadurch bekommt man stetig wachsende Kenntnisse über die Figuren, so dass man ihre Verhaltensweisen besser verstehen kann. Der Autor spannt einen weiten Erzählbogen, dem man trotz seiner Zeitsprünge gerne folgt. Der Erzählfaden wird stets thematisch verknüpft und wieder aufgenommen. Er zeigt dabei nicht nur eine Paarbeziehung, sondern die gesamte moderne Gesellschaft im Wandel. Welchen Einfluss haben das worldwide Web, soziale Medien, Computerspiele oder Algorithmen auf unser Leben? Der Zeitgeist wird süffisant anhand vieler Beispiele vorgeführt, sei es in der Kunst, der Kindererziehung, im Beschwerdemanagement, im Streben nach ewiger Jugend oder dauerhafter Leidenschaft und vielem mehr. Dabei spielen technischer Fortschritt, Pseudowissenschaft, Gesundheitsarmbänder oder Verschwörungstheorien eine Rolle. Elizabeth sitzt durch ihre Arbeit beim „Wellness“- Institut an der Quelle, um so manches Kuriosum aufzudecken. Dort setzt man Placebos und Suggestivgeschichten ein, um individuelle Probleme zu lösen. Jack muss sich indessen an der Kunsthochschule mit Likes und Followern gegen die omnipräsenten Sparzwänge der Verwaltung behaupten, die seinen Job bedrohen. Dazu kommt, dass renitente Protestler gegen das Wohnungsbauprojekt, in dem sämtliche Ersparnisse des Ehepaars stecken, mobil machen. Es mangelt nicht an Handlung in diesem fulminanten Roman. Schein, Sein und Täuschung sind durchgängige Motive.

Auch die Nebenfiguren rund um die kleine Familie wurden mit Komplexität angelegt. Jack und Elizabeth haben das intensive Bedürfnis, dazuzugehören. So melden sie ihren Sohn an der Schule an, die zu ihrer zukünftigen wohlhabenden, konservativen Wohngegend gehört. Die daraus resultierenden Begegnungen zeichnen sich durch Exzentrizität mit Spaßfaktor aus. Hill versteht es, hinter die bürgerlich scheinheiligen Fassaden zu führen, die vielfach aus Oberflächlichkeiten und Traumwelten bestehen. Der Autor verfügt über einen ungeheuren Ideenreichtum, er zeigt uns die amerikanische Gesellschaft als wahres Kuriositätenkabinett. Dabei überzieht er bewusst launig, sein Ton ist facettenreich. Er beherrscht die Klaviatur der Stimmungen, wechselt vom Sachlichen ins Philosophische und zeigt viel Humor, ohne jemals platt zu werden. Seine anschaulichen Beschreibungen suchen ihresgleichen. Das gilt nicht nur für das Chicagoer Umfeld, sondern insbesondere auch für die eigentümliche Villa von Elizabeths Eltern sowie die nur auf den ersten Blick eintönige Prärielandschaft, die Jacks Zuhause war.
Nathan Hill ist ein wunderbarer Erzähler und Kenner der menschlichen Psyche. Er beobachtet genau, beherrscht sein Metier und setzt auf starke Symbolik, wo sie passt. Die Dialoge haben Esprit, der Text glänzt mit zahlreichen klugen und nachdenklichen Passagen, die sich den großen Lebensfragen zuwenden. Dabei gerät das Ehepaar nie aus dem Blick. Zum Ende hin hat der Leser Kenntnis über die maßgeblichen Familiengeheimnisse, wodurch der Roman zunehmend an Ernsthaftigkeit und auch Tragik gewinnt.

Ich bin begeistert von der Themenvielfalt dieses Romans, der trotz seiner 728 Seiten niemals langweilig wird. Nathan Hill hat nach seinem Roman „Geister“ (2016) auf beeindruckende Weise nachgelegt.

Große Leseempfehlung!