Scharfsinnig, humorvoll und mitfühlend

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alasca Avatar

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Wann wird aus einem Lebensnarrativ Selbstbetrug? Warum wird die Entstehungsgeschichte einer Liebe plötzlich unglaubwürdig? Welchen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen kann man trauen? Wie kann es einem gelingen, so etwas wie Sicherheit, inneren Frieden und Gelassenheit zu erreichen? Ist das ohne Selbstbetrug überhaupt möglich?

Jack, Fotokünstler, und Elizabeth, Wissenschaftlerin, sind ein Studentenpaar, das sich in Pre-Internetzeiten im Chicago der 90er kennenlernt: Beide sind sie vor ihren lieblosen Familien geflohen, um sich in der großen Stadt völlig neu zu erfinden und in einer romantischen Beziehung gegen alle Konventionen zu leben. 20 Jahre später stellt sich heraus, dass sie das geworden sind, was sie damals scharf verurteilt hätten: Ein verheiratetes Paar mit getrennten Schlafzimmern, er Assistenzprofessor für Kunstgeschichte, sie Leiterin eines Instituts für Placeboforschung. Haben sie sich total verändert – oder sind sie nur das geworden, was sie unbewusst schon immer waren? Als sie beschließen, eine Wohnung in einer gentrifizierten Vorstadt zu kaufen, decken die Diskussionen über deren Wunscheigenschaften klaffende Risse in ihrer Ehe auf. Was nun?

Der Kern des Romans ist die Leere, die viele Menschen in der Mitte des Lebens empfinden und die so typisch ist für das 21. Jahrhundert: Wir sind nicht mehr die, die wir mal waren, aber die, die wir werden wollten, sind wir auch nicht. Und diese Lücke versuchen wir durch Selbstoptimierung, neudeutsch Life Hacks, zu schließen: Der Titel des Romans - Wellness - bezieht sich auf diese Manie. Die Informationsflut des Internetzeitalters hilft dabei ironischerweise gerade nicht. Von Rezepten für Detox-Smoothies bis zu Armbändern, die über jeden Aspekt unseres Körpers Daten sammeln und mehr oder weniger absurde Fitnessprogramme verordnen, hat es jede Menge Dinge parat, die Erfüllung versprechen. All das unterstützt durch die Community-Blasen, in denen wir Bestätigung für die abwegigsten Theorien finden können. Zu Beginn des letzten Romandrittels serviert Hill uns ein beeindruckendes Kapitel, das uns am Beispiel von Jacks Vater und sieben bekannten Algorithmen erklärt, wie Facebook und Co. uns manipulieren. Aber auch die „guten“ Informationen tun nicht immer Gutes: Elizabeth, die ihrem 8-jährigen Sohn helfen will, seine sozialen Defizite zu überwinden, erliegt dem Daten-Overkill und glaubt, seine Defizite verursacht zu haben. Nathan Hill fängt den Wahnsinn unserer Internet-vergifteten, Marketing-getriebenen, von Leere bedrohten Gegenwart perfekt ein.

Das gelingt ihm durch seine glasklare Analyse sozialer Dynamiken, sei es die studentischen Rebellentums, des akademischen Betriebs oder einer langjährigen Ehe. Eins der vielen Glanzlichter des Romans ist eine bissig-komische Szene, die die postfaktischen Überzeugungen der neuen Nachbarschafts-Community entlarvt. Von Immobilienhai bis Momfluencerin, Hill richtet seinen Röntgenblick auf die bei näherem Hinsehen oft absurden Glaubenssätze der Menschen. „Glauben Sie, was Sie wollen, meine Liebe, aber glauben Sie vorsichtig,“ rät Elizabeths emeritierter Professor ihr. „Glauben Sie mitfühlend. Glauben Sie voller Neugier.“ Die Romangegenwart ist 2015 verortet, kurz von der Trump-Präsidentschaft. Nathan Hill seziert ganz nebenbei die Befindlichkeiten und Haltungen, die diese möglich gemacht haben.

Folgerichtig wird alles, was am Anfang des Romans als Gewissheit gegolten hat, in seinem Verlauf in Zweifel gezogen. Wir folgen Jack und Elizabeth in ihre Vergangenheit und stellen mit ihnen zusammen fest: Nichts hält stand, die Narrative der Kindheit nicht und nicht die Genesis von Jacks und Elizabeths Liebe. Wie der Autor es fertigbringt, einen derartig komplexen Stoff, mit so vielen gleichermaßen relevanten Themen zu beherrschen, ohne überladen zu wirken und ohne dass auch nur ein Faden dem Gewebe entgleitet, das ist ganz große Kunst. Auf den 736 Seiten des Romans kommt niemals Langeweile auf. Trotz (oder wegen?) offensichtlich heroischer Rechercheleistung des Autors wirken Konstruktion und Story vollkommen organisch, denn Nathan Hills Figuren sind komplex und glaubwürdig, die Storyline logisch und seine Prosa ebenso elegant wie zurückhaltend. Das verhalten optimistische, offene Ende passt dazu.

Fazit: Ein scharfer Blick auf unsere Gegenwart, gemildert durch Mitgefühl und Humor. Ein großer Wurf, den ich aus vollem Herzen empfehlen kann.