So viel mehr als nur ein Eheroman

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an_der_see Avatar

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Ich habe ein neues Lieblingsbuch: „Wellness“ von Nathan Hill. Welch ein famoser Start in das Lesejahr 2024, zur Zeit kann ich mir kaum vorstellen, dass es dieses Jahr ein Buch geben wird, dass mich ähnlich begeistern könnte. Für mich ist „Wellness“ US amerikanische zeitgenössische Literatur der Spitzenklasse. Erzählt wird die Ehegeschichte von Jack und Elizabeth, die sich 1993 in Chicago kennenlernen. Bevor sie die ersten Wörter miteinander wechseln, beobachten sie sich gegenseitig wochenlang in ihren Wohnungen, ohne dass der andere etwas davon ahnt. Sie werden ein Paar. Elizabeth studiert Psychologie mit sehr vielen Nebenfächern und Jack widmet sich dem Fotografiestudium. Zusammen bewegen sie sich in Chicagos Kunstszene der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Doch nach und nach heiraten ihre Freunde, verlassen Chicago, werden sesshaft, gründen Familien. Wenn auch etwas später als ihre Freunde, heiraten Jack und Elizabeth, werden Eltern von Toby. Jack arbeitet an der Universität, ist Fotograf und Künstler. Elizabeth arbeitet bei Wellness, einer Praxis die sich dem Aufspüren und der Wirkungsweise von Placebos widmet. Während Jack mit seinem Leben zufrieden ist, beginnt Elizabeth zu hadern. Alles in ihr ruft nach Veränderungen. Es soll eine Traumwohnung in einem Vorort Chicagos sein, eine neue Schule für Toby, neue Freunde für sich und Jack, sexuelle Abenteuer, welche ihre Ehe beleben sollen. All das nimmt Fahrt auf und droht in einer Sackgasse zu enden...
„Wellness“ ist aber so viel mehr als nur die Geschichte einer Ehe. In verschiedenen Rückblicken begleiten wir Jack und Elizabeth durch ihr Leben, ihre Herkunft und erfahren, dass hinter beiden eine traumatische Kindheit liegt, deren Auswirkungen sich durch beider Leben ziehen und ihre Ehe stark beeinflussen. Man kann nicht vor dem fortlaufen, was einen geprägt hat, es holt einen immer wieder ein und irgendwann hat man kaum eine andere Wahl, als sich dem zu stellen. Jack und Elizabeth erleben das beide. Und ihre eigenen Unsicherheiten und Irrungen drohen sich auf ihren Sohn zu übertragen. Denn Elizabeth findet keine Sicherheit in ihrer Mutterrolle und orientiert sich an Studien zum Thema Kindererziehung, ohne sich bewusst zu sein, dass nicht jede Studie auf jedes Kind anwendbar ist. Ähnlich ist es mit den Lebensvorstellungen und Lebensentwürfen anderer Menschen, die Elizabeth versucht zu kopieren, in ihr Leben zu integrieren. Menschen die nach Außen hin glücklich und zufrieden wirken, die es zu gesellschaftlicher Anerkennung und finanzieller Sicherheit gebracht haben. Und doch ist all das vielleicht nur Schein. Wie so vieles in der gegenwärtigen Gesellschaft. Man strebt nach Selbstoptimierung, nach Perfektionismus, ohne sich selber zu kennen und droht darüber sich komplett zu verlieren.
Was und wie Nathan Hill erzählt ist für mich große Literatur. Er geht dorthin wo es schmerzt und noch ein Stück weiter. Es gibt Musikstücke, die dringen ohne Schranken ins Gehirn und lösen Emotionen aus, die man nicht ausgelöst haben möchte, Erinnerungen, Gedanken, Sequenzen, die hinter verschlossenen Türen bleiben sollen. „Wellness“ ist das literarische Gegenstück zu diesen Musikstücken. Auch kam es mir beim Lesen so vor, als betrachtete ich Rembrandts „Die Anatomie des Dr. Tulp“. Schicht für Schicht wird offen gelegt, was Elizabeth und Jack hat zu den Menschen werden lassen, die sie sind. Jacks Mutter und Elizabeths Vater werden mir in Erinnerung bleiben. Und ganz sicher in keiner guten. Es kommen Szenen in „Wellness“ vor, die tief bewegen, erschüttern und sehr viel erklären, die ans Existenzielle kratzen.
„Wellness“ zeigt auf, wie wichtig es ist miteinander zu reden und gleichzeitig wie schwer genau das in einer Zeit ist, in welcher die Menschen so starken äußeren Einflüssen und Manipulationen ausgesetzt sind, dass sie selber kaum noch wissen, wer sie sind, wer sie sein wollen und wer sie sein können.
„Wellness“ ist ein Eheroman, ein Gesellschaftsroman, vielleicht auch eine Art psychologischer Ratgeber, der tief empfinden lässt, dabei unterhält, lehrt und einen literarisch erfüllt.