Wissen und die Tücken

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Die Geschichte beginnt simpel, aber gefühlvoll und bezaubernd: Ein junger Mann und eine junge Frau wohnen in gegenüberliegenden Wohnungen. Sie beobachten einander Tag für Tag durch ihre Fenster und verlieben sich, ohne dass die bzw. der jeweils andere davon weiß.

Jahre später sind Jack und Elisabeth verheiratet, haben einen kleinen Sohn und Pläne, bald in eine Eigentumswohnung zu ziehen. Nun zeigen sich die Probleme: Jack und Elisabeth sind in vielen Dingen völlig unterschiedlich. Nicht nur bei der Erziehung ihres Sohnes Toby, mit der Elisabeth überfordert ist. Während sie sich zurückzieht, hängt Jack dem Ideal der wahren Liebe nach. Mit der Zeit fragt er sich, ob diese Liebe wirklich echt ist.

Dies ist eines jener Bücher, die nachwirken, weil sie auf vielfache Weise ins Schwarze treffen. Kernmotive sind vermeintliches Wissen bzw. Illusionen. Viele unserer Entscheidungen beruhen auf Sehnsüchten und inneren Mechanismen, die uns nicht bewusst sind. So geht es auch Jack und Elisabeth, die ihre Beziehung aufgrund einschneidender Erfahrungen in der Kindheit mit bestimmten Wunschvorstellungen beginnen.

Wir erleben Jack und Elisabeth in einer Zeit, in der die Fassade bröckelt. Jack verliert sich daraufhin im Fitness- und Selbstoptimierungswahn, Elisabeth erwägt offene Liebe. Beide driften weiter auseinander.

Der einsetzende Prozess der Selbsterkenntnis von Jack und Elisabeth breitet sich auf 736 Seiten aus, von denen die allermeisten höchst unterhaltsam sind, weil Nathan Hill die Kunst beherrscht, seine Figuren mit Glaubwürdigkeit auszustatten. Sein wunderbarer Schreibstil hat mich mit den ersten Zeilen gepackt. Die leise Ironie und der Humor, mit der er sich seinen Figuren nähert, kippt in keinem Moment ins Abfällige.

Immer wieder geht es um die Suche nach und den Verlust von Gewissheiten: Sei es, wenn Elisabeth eine wissenschaftliche Studie nach der anderen zur Lösung von Erziehungsproblemen ausgräbt (herrlich!) oder wenn Jacks Vater im Internet dem Desinformationsalgorithmus auf den Leim geht. Insofern fängt das Buch Probleme unserer Zeit gelungen ein. Dafür wird es in der internationalen Presse auch gelobt: In Zeiten des Informationsüberangebots ist Orientierung schwieriger denn je.

Der Grund, warum die Geschichte nicht ganz die volle Punktzahl von mir erhält, ist der sehr umfangreiche Mittelteil, in dem via Rückblenden weit in die Vergangenheit der Protagonisten gewandert wird, um unser Bild von den beiden nach und nach zu vervollständigen. Bei Elisabeth erleben wir gleich mehrere Generationen „Killerkapitalismus“. Das hat durchaus erhellende Momente, fühlte sich insgesamt aber zu verzweigt an. Bei einzelnen Figuren (etwa Brandie) schrappt Nathan Hill hart an der Klischeekante vorbei, was jedoch auch amüsant ist.

Fazit: Mich hat dieses Buch sehr gut unterhalten und berührt. Es ist geistreich, aber nicht abgehoben, witzig, nachdenklich und passt insgesamt hervorragend in die Zeit. Längen im Mittelteil führen zum Punktabzug. Dennoch möchte ich für Buch und Hörbuch, auf das ich zeitweise zurückgegriffen habe und das kongenial von Uve Teschner eingesprochen wird, eine Empfehlung geben. „Wellness“ ist eine gelungene Kombination aus Satire, Ehe- und Gesellschaftsroman. Tragisch, komisch, klug.