Der Moment der größtmöglichen Schwäche

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buecherfan.wit Avatar

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In dem Roman "Wenn die Nacht am stillsten ist" von Arezu Weitholz sitzt Anna am Bett ihres bewusslosen Freundes Ludwig. Ludwig hat versehentlich oder absichtlich eine Überdosis Schlaftabletten genommen, eventuell, weil etwas herausgekommen ist, was verborgen bleiben sollte oder weil er von seinem Freund Julius enttäuscht worden ist. Dabei stellt Anna von vornherein klar, dass Selbstmord eigentlich so überhaupt nicht zu ihrem Freund passt. Für Ludwig muss immer alles perfekt sein, außerdem heiter, fröhlich und leicht, und er selbst will immer alles im Griff behalten. Er verachtet Schwäche und spricht auch seiner Freundin die Fähigkeit ab, Großes zu erreichen. Er sieht sie als Scheiternde, als tragische Figur. Im Grunde weiß er jedoch sehr wenig über sie, weil er ihre Geschichten nie hat hören wollen. Anna bekommt durch die gegenwärtige Situation erstmalig eine Stimme. Ob Ludwig sie hört und versteht, ist nicht sicher. Auf jeden Fall kann er ihr nicht antworten.

Anna erzählt aus ihrer Vergangenheit, ihrem Leben in Südafrika, ihren Drogenerfahrungen und der Konfrontation  mit dem Tod. Sie berichtet von ihrer depressiven Mutter, die immer wieder mit Zusammenbrüchen in die Klinik eingeliefert wird, von dem Kummer des Vaters, dem sie beistehen muss, von der kranken Oma. Aber sie setzt sich auch schonungslos mit Ludwigs Charakter auseinander, seiner Arroganz und Eitelkeit, die ihn auf alles und jeden herabsehen lassen.

Sprachlich-stilistisch ist der Text sehr anspruchsvoll und liest sich gut. Die Autorin findet originelle Metaphern, zum Beispiel, wenn sie einen Selbstmordversuch mit dem Auswandern in das unbekannteste Land von allen vergleicht (S.  21)  oder wenn Anna in Ludwig einen Kontrollfreak sieht, der die Fernbedienung nicht aus der Hand geben will (S. 26).

Mich hat die Ausgangssituation an einen anderen Roman erinnert, wo ebenfalls eine Frau mit einem bewusslosen Mann abrechnet, allerdings unter völlig anderen Lebensumständen: Atiq Rahimi, Der Stein der Geduld. Die Ehefrau pflegt ihren bewusstlosen Mann, einen Kriegshelden in Afghanistan, und ist dabei ständig von Vergewaltigung und Tod durch rivalisierende Clans bedroht. Auch ihr Monolog ist ein Akt der Befreiung und eine Abrechnung mit einem Menschen, dem sie all diese Dinge niemals von Angesicht zu Angesicht hätte sagen können.

Mir gefällt die Leseprobe ausgesprochen gut. Mein Interesse für den Roman ist geweckt..