Der letzte Tag und die folgende Nacht

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buecherfan.wit Avatar

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In ihrem Roman “Wenn die Nacht am stillsten ist” erzählt Arezu Weitholz die Geschichte von Anna Born und Ludwig Faller. In einem fast 50 Seiten langen Monolog mit der Überschrift “Die Nacht” wendet sich Anna als Ich-Erzählerin an den bewusstlosen Ludwig, der wahrscheinlich eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat. Zum ersten Mal in acht Monaten muss er ihr zuhören. Sie spricht über alles, was sie bisher nicht erwähnen durfte: ihre einfache Herkunft, den Selbstmord des Vaters, an dem sie eine Mitschuld trägt, weil sie ihn hätte verhindern können, die depressive Mutter in der Klinik und ihre Fluchten ins Ausland, vor allem ihr exzessives Leben in Südafrika. Auf diesen ersten fünfzig Seiten werden die Protagonisten sorgfältig charakterisiert, und es ist hier schon offenkundig, dass diese Beziehung nicht funktionieren konnte. Ludwig ist arrogant, manipulativ und emotional schwer gestört. Er will keine Liebesbeziehung, weil er nicht lieben kann und es auch nicht können will. Durch seine Distanziertheit will er im Grunde auch Anna nur schützen und auf das Ende vorbereiten. Das hindert ihn jedoch nicht daran, sie so zu formen, wie er sie haben will, und sie passt sich aus Liebe bis zur Selbstaufgabe an. Sie trägt anthrazitfarbene Kleidung, obwohl diese Farbe sie immer an die Schlaufen in der Klinik erinnert, mit denen ihre Mutter im Bett fixiert wird, sie zupft sich täglich die Augenbrauen und hungert, bis sie nur noch 45 Kilo wiegt, weil Ludwig Models mag, und sie achtet darauf, die richtigen Turnschuhe zu tragen. Dennoch kann sie es ihm nie recht machen. Er nennt sie eine tragische Figur, die nicht zu Großem berufen ist, die ihre Worte nicht richtig wählt und nicht den richtigen Musikgeschmack hat. Anna fragt sich, wieso jemand, der immer alles im Griff haben musste, sich diesen Moment der größtmöglichen Schwäche erlaubt hat und Selbstmord begeht oder einen Selbstmordversuch unternimmt, statt zu kämpfen. Das Motiv wird im ersten Teil bereits angedeutet: Julius, sein ehemals bester Freund, aber auch sein ärgster Rivale bei dem Hamburger Gesellschaftsmagazin, stellt sie beide öffentlich bloß.
Im zweiten Teil - überschrieben mit “Der Tag zuvor” - wird die Geschichte ihrer auf Ludwigs Wunsch geheim gehaltenen Beziehung aus Annas Perspektive chronologisch erzählt, und der Leser erfährt, was am letzten Tag vor Ludwigs Selbstmord(versuch) geschehen ist. Narrative Passagen wechseln mit Dialogen ab. Viele Episoden sind aus dem ersten Teil bereits bekannt, werden hier aber korrekt in den zeitlichen Ablauf eingeordnet. Ludwig hat morgens die Beziehung ohne Angabe von Gründen beendet, und Anna besucht ihre Mutter in Bremen im Altersheim. Von ihrem besten Freund Hannes erfährt sie am Abend von der Auseinandersetzung zwischen Ludwig und Julius und den Beziehungsproblemen zwischen Julius und seiner Freundin Tina. Dieser Teil endet da, wo der erste anfängt. Anna wird Ludwig bewusstlos in seiner Wohnung finden.
Die Analyse einer sehr ungleich gewichteten Liebesbeziehung in anspruchsvoller sprachlicher Form ist der Autorin sehr gut gelungen, und das umgestellte Erzählen mit den zwei Erzählertypen ist eine originelle Idee. Arezu Weitholz zeigt, wie ihre Protagonisten einen absoluten Tiefpunkt in ihrem Leben erreichen - Ludwig durch seine berufliche Blamage und Anna durch ihre gescheiterte Beziehung. Da kommt es auch nicht mehr darauf an, ob Ludwig überlebt oder wie es für Anna weitergeht. Der Roman krankt etwas an seinem Mangel an Handlung und an seinen Protagonisten, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht als Sympathieträger eignen. Er ist nicht besonders spannend und bietet wenig Überraschungen.