Um Leben und Tod

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alasca Avatar

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Es ist Abend. Anna sitzt am Bett von Ludwig, der eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat, und spricht mit ihm, der sie nicht hören kann. Oder vielleicht doch? In Rückblenden erfahren wir Stück für Stück nicht nur Annas Lebensgeschichte, sondern auch die Geschichte von ihr und Ludwig, die am Morgen desselben Tages endete. Warum ist sie trotzdem bei ihm? Warum ruft sie keinen Notarzt?

Anna hat ein unstetes Leben geführt. Ständig ist sie unterwegs und auf dem Sprung, kommt nirgendwo an, nicht an Orten, nicht bei Menschen. Früh auf sich allein gestellt durch den Selbstmord ihres Vaters, die Mutter infolge psychisch krank, fühlt sie sich nirgendwo zu Hause: nicht an Orten, nicht bei Menschen.

Auch bei Ludwig ist nicht gut Wurzeln schlagen. Jedem tieferen Gefühl panisch abhold, interessiert ihn nur der schöne Schein, der Stil, das „Große“, mit dem Eindruck zu machen ist, oder Karriere. Er lässt sich zwar auf sie ein, aber strikt zu seinen Bedingungen: In der Redaktion darf aus Imagegründen niemand davon erfahren, sein Buchprojekt darf nicht darunter leiden, und Gefühl, Unterstützung oder gar Interesse an ihrer Person kann sie auch nicht erwarten. Annas persönliche Geschichte interessiert ihn nicht – nicht, wenn sie traurig ist, und das ist sie. Stattdessen bewertet er ständig, ob Anna hinreichend cool auf seine Provokationen reagiert. Wird sie zu emotional, gar romantisch, wird das sofort durch Missbilligung abgestraft. Wird sie womöglich unpräzise, tadelt er sie: „Du benutzt die Worte falsch. Du bist nicht genau.“

Er versucht, sie als Journalistin zu coachen, was zur Kollision mit Annas Werten führt, denn sie, die von sich sagt „Ich will wahr sein“ kann seine Methoden nicht billigen: für ihn ist die gute Geschichte der wahren jederzeit vorzuziehen. An der Stelle verweigert sich Anna – wiewohl sie sich ansonsten willig emotional von ihm missbrauchen lässt. Gleichzeitig leidet sie unter der erzwungenen Unverbindlichkeit der Beziehung.

Also wovon handelt dieses Buch? Es geht um Wertverlust, es geht um Mut, und es geht um Einsamkeit: Die im Alter(die Bewohner der Senioren“residenz“), die in der Gesellschaft (Anna), und die in sich selbst (Ludwig). Annas emotionales Vakuum wird deutlich am Tod ihres Aquariumsfisches: der erschüttert sie, während sie vergeblich versucht, um die Beziehung zu Ludwig zu trauern. Ludwig, dessen mühsam aufgebautes Image durch seinen Jugendfreund und Konkurrenten zerstört wird, hat sonst nichts, für das es sich zu leben lohnt. Seine verzerrten Werte bringen ihn am Ende in Lebensgefahr.

Der letzte Satz des Romans entspricht dem ersten – er lässt alles offen, man könnte quasi wieder von vorn zu lesen anfangen, und ich muss gestehen, ich habe ihn nicht verstanden. Denn es geht keineswegs nur um den Moment, es geht um Leben und Tod. Wie wird Anna sich entscheiden?

Mir gefiel an dem Roman die Klarheit, mit der die Autorin Position bezieht, die geschliffene, sehr lesbare Sprache, die mit sicherem Strich gezeichneten Figuren. Die Autorin hat genau hingeguckt und den Zeitgeist seziert, aber nicht nur das: Der Text ist auch ein Plädoyer für die Menschlichkeit und eine Hommage an die alltägliche Tapferkeit der ganz normalen Leute.