Aufarbeitung vergangener Zeiten

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
meerblick Avatar

Von

Lisa ist Ende dreißig und alleinerziehend, lebt in Freiburg, unterrichtet dort Musik an einem Gymnasium. Sie ist gefangen in ihrem Alltag, die zu erfüllenden Aufgaben sind erdrückend, lassen ihr keine freie Minute. Ihren sechsjährigen Sohn Paul liebt sie über alles auch wenn der Junge ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert. Janusz, der Kindesvater, hat es vorgezogen, sich hunderte von Kilometern entfernt eine Arbeitsstelle zu suchen, so dass die Last des Alltags allein auf den Schultern von Lisa liegt. In den Sommerferien macht Janusz mit seinem Sohn gemeinsam Urlaub. Mit gemischten Gefühlen steht Lisa dem gegenüber, fühlt sich als schlechte Mutter, weil sie sich über die gewonnene Zeit freut und den Versuch unternimmt, Fragen zu ihrer Ich-Wahrnehmung für sich zu klären. Das ist keine leichte Aufgabe, denn nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Geschehnisse aus der Vergangenheit belasten sie schwer. Dabei spielt die von ihrem Großvater geerbte Geige eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Geschichte.
Anne Stern widmet sich in ihrem Gegenwartsroman 'Wenn die Tage länger werden' sehr einfühlsam dem Thema alleinerziehender Mütter, welches in unserer modernen Gesellschaft noch immer eine nicht zu unterschätzende Tragweite besitzt, den schmalen Grad zwischen der Liebe zum Kind und den Freiraum zur Gestaltung eigener Bedürfnisse ausleuchtet, den Konflikt zwischen dem Wunsch nach eigener Verwirklichung und den vorherrschenden bürgerlichen Denkstrukturen aufzeigt. Sehr sensibel behandelt sie fast nebenbei die Aufarbeitung generationsübergreifender Schuld unverarbeiteter Geschehnisse aus der Vergangenheit, verursacht durch Verweigerung von Kommunikation im Resultat von schweigender Duldung.
Ein großartiger Roman, der herausfordernd ein Zeitzeugnis widerspiegelt und dem ich sein dankbares Lesepublikum wünsche.