Über Mutter-Tochter-Beziehungen und toxische Erwartungen

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karla kolumna Avatar

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"Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen" ist ein sehr vielschichtiger Roman über Rollenbilder, Familienkonstellationen, (unerfüllte) Erwartungen und Mutter-Tochter-Beziehungen. Weder der Buchtitel noch das Cover können diesem wirklich gerecht werden und stellen keinen geeigneten Zusammenhang zur Thematik dar - denn dieses Buch ist so viel mehr und könnte leider wegen der Schlichtheit leicht übersehen werden.

Brüggemann hat einen intelligenten, emotional vielschichtigen Roman über Töchter und Mütter geschrieben, über Liebe, Abhängigkeit, toxische Erwartungen und das große Bedürfnis gesehen zu werden. Der Roman beginnt im Jahr 1998, als die Geschwister Antonia und Wanda auf der Schwelle zur erwachsenen Frau sowie ihrer beruflichen Zukunft stehen. Dann begleiten wir die Familie ins Jahr 2010, später 2019 und bekommen noch einen kurzen Einblick in die Gegenwart. Die Töchter werden zu Frauen, die ihre eigenen Familien gründen, Entscheidungen treffen und Misserfolge verarbeiten müssen. Sie kämpfen immer wieder mit erlernten Rollenmustern, die Regina ihnen in deren Kindheit "auferlegt" hatte. Teilweise emanzipieren sie sich von ihrer doch oft sehr harten und leistungsorientierten Mutter. Besonders die Lieblingstochter Wanda macht im Buchverlauf eine große Entwicklung durch und entzieht sich ihrer Mutter sogar zum Teil. Die Autorin schafft es, die Geschichte sehr authentisch niederzuschreiben und die Protagonistinnen sehr lebensnah zu charakterisieren. Anfangs ist mir Regina äußerst unsympathisch. Sie sieht sich als Opfer ihres Lebens, ist mit ihrem Werdegang unzufrieden, hadert mit dem Alter und alles dreht sich irgendwie immer um sie. Es lässt sich auch nicht so einfach aushalten wie sie Antonia maßregelt und wie abwertend sie über ihre älteste Tochter denkt. Mit den Jahren wird Regina erstaunlicherweise milder und es wird auch besser nachvollziehbar, weshalb sie zu dieser erwachsenen Frau wurde, die scheinbar nichts wirklich erfüllen kann. Regina wollte nie diese Mutter- und Hausfrauenrolle so ausfüllen und daher mit aller Macht erreichen, dass ihre Töchter frei sind und sich - besonders auch beruflich - selbst verwirklichen. Dafür braucht es ihrer Auffassung nach keine Männer und so nehmen diese in diesem Buch auch nur eine untergeordnete Rolle ein.

Der Roman schafft es, betroffen und vor allem nachdenklich zu machen. Wie war es im eigenen Umfeld, in der eigenen Kernfamilie? Leider war die Rolle der Frau in den 90er und anfänglichen 2000er Jahren stark geprägt von gesellschaftlichen Normen: Dünn und schön sein - dies zählte zu erstrebenswerten "Tugenden". Die meisten jungen Mädchen wollten entsprechend aussehen. Daher wirkt Wandas Essstörung und ihre nie enden wollenden inneren, kritischen Monologe sehr real. Es ist bedauerlich, dass die Töchter wegen ihrer Mutter auch immer in Konkurrenz zueinander stehen und offenbar kein inniges Verhältnis zueinander möglich ist.

Wir begleiten Antonia und Wanda auf der Reise zu sich selbst und auch bei dem äußerst schmerzlichen Abschied von ihren Eltern. Brüggemann schafft dies gekonnt mit wenig Worten und ohne zu theatralisch zu werden - trotzdem lese ich da so viel Gefühl und Ungesagtes heraus- grandios. Besonders hervorheben will ich noch die Rolle der ältesten Enkelin und Tochter von Antonia: Sie ist mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, so sein zu dürfen wie sie ist und das lebt sie auch aus. Sie ist nicht besonders schmal und auch nicht übermäßig schulisch begabt. Sie kritisiert das Verhalten ihrer Oma ganz offen - und wird dafür dennoch von dieser geschätzt.

Dieser Roman geht ans Herz, macht äußerst nachdenklich und hallt erstmal für eine gewisse Zeit nach. Fühlen wir uns ein wenig wiedererkannt? Wie können wir aus diesem Kreislauf ausbrechen oder es anders machen? Sehr spannende Thematik, die sehr gefühlvoll aufgearbeitet wurde. Danke für dieses wertvolle Buch!