Berauschende Fortsetzung

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jollybooktime Avatar

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„Ich dachte, wenn ich weit weg bin, dann sind die Gedanken leiser. Aber sie sind laut, und sie tun weh.“

Wer im letzten Jahr an Caroline Wahls „22 Bahnen“ vorbeigekommen ist – erstaunlich, aber hey: Ihr könnt, dürft, müsst das gerne und unbedingt nachholen! Alle anderen knüpfen nun mit „Windstärke 17“ an die Geschichte der Schwestern Tilda und Ida an. Diesmal blicken wir durch die Augen der mittlerweile Anfang 20-jährigen Ida, die nach dem Auszug ihrer älteren Schwester zurückblieb bei der alkoholkranken Mutter. Diese ist zu beginn des Romans erst kürzlich an ihrer Alkoholsucht gestorben und Ida will nur noch weg aus ihrem alten Zuhause, raus aus dieser Stadt, ohne einen klaren Zielort zu haben. Ihre Reise beginnt mit wenigen Habseligkeiten in einem Koffer und einem Bauch voller Wut, Angst und Schuldgefühlen. Zu ihrer Schwester, die mit Mann und Kindern in Hamburg lebt, will Ida nicht. Zu groß ist der Wunsch, es alleine zu schaffen. Sie landet auf der Insel Rügen, die nicht nur Zuflucht, sondern auch unerwartete Begegnungen bereithält. Einen ersten schnellen Job findet sie als Kellnerin bei Kneipenwirt Knut, der schnell Idas Not erkennt. Seine Frau Marianne und er nehmen Ida bei sich auf und urplötzlich stellt sich ein wunderbares Gefühl von Zuhause und Fürsorge bei Ida ein. Das tägliche Ritual des Frühstücks und die einfachen Freuden des Tages bieten Trost und Heilung für ihre Seele, die aufgrund ihrer Vergangenheit zunächst unterkühlt und leicht verbittert wirkt. Als dann auch noch Leif Jansen auftaucht und Ida eine Nähe bietet, die sie bislang nicht kannte, geraten ihre Glaubenssätze ins Chaos. Misstrauisch gegenüber allem Schönen und Guten, ist sie stets auf der Hut, sich zu sicher zu sein. Nach dem Motto „Das Glück ist ein Arschloch“, hat sie gelernt, dass auf jedes Glück ein Unglück folgt. Ida hadert weiterhin mit ihrem „Versagen“ gegenüber der trinkenden Mutter, die sie nicht retten konnte. Sie rennt und schwimmt hartnäckig an gegen das Trauma, das sie bis in ihre Träume verfolgt. Kann sie mithilfe von Marianne, Knut und Leif Hoffnung schöpfen, Frieden mit der Vergangenheit und ihrer Mutter schließen und Vertrauen zu sich selbst fassen?

Nach „22 Bahnen“ ist Caroline Wahl mit „Windstärke 17“ eine runde und fesselnde Fortsetzung gelungen. Ihre Figuren haben sich glaubhaft weiterentwickelt. Die einst enge Beziehung der Schwestern, Tilda und Ida, ist stark angeknackst. Schade, aber verständlich und realistisch, wenn man die Strukturen der Familienkrankheit Alkoholismus kennt. Jeder muss zusehen, dass er seinen eigenen Hintern rettet und hat seine ganz eigenen Überlebensstrategien.

Das raue Ostseeklima, dessen Wind Ida den Kopf freipustet, trifft auf das warmherzige neue Zuhause, das sie bei Marianne und Knut findet. Die jeweilige Atmosphäre war für mich immer deutlich spürbar und hat es mir leicht gemacht, Idas Gefühlslagen nachzuempfinden. Und auch wenn es irgendwie unrealistisch erscheint, dass da Menschen wie aus dem Nichts auftauchen, um Ida in ihre Arme und ihr Herz zu schließen, möchte ich so gerne glauben, dass auf uns alle irgendwo eine Marianne, ein Knut oder ein Leif wartet – der Ritter, den es so natürlich gar nicht gibt.

In nur wenigen Stunden habe ich diesen Roman inhaliert. Keine Längen, kein Stocken – einfach ein Rauschen, wie Ida es erlebt, wenn sie ins Wasser eintaucht. Und am Ende des Buches bleibt mir nur, den Regen aus meinem Gesicht zu wischen und zu atmen: 4-7-8 …