Ida taucht auf!

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textwerkbremen Avatar

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„ich würde ihn gern fragen, warum ihm leben gerade schwerfällt, aber ich denke, ich bin vielleicht jetzt gerade nicht in der besten Position, solche Fragen zu stellen.“ (101)

Noch sehr präsent ist Caroline Wahls Debütroman: Tilda schwamm darin jeden Tag die titelgebenden 22 BAHNEN. So bekam sie den Kopf frei von der Verantwortung für ihre alkoholkranke Mutter und kleine Schwester. Manchmal begleitete Ida, Tildas kleine Schwester, sie ins Schwimmbad. Ida war nicht wie Tilda daran interessiert, sich vorwärtszubewegen oder ein messbares Ziel zu erreichen. Ida im Wasser bedeutete tauchen. Ida tauchte ab.

WINDSTÄRKE 17 setzt Jahre später ein. Während Tilda studierte, blieb Ida bis zum Schluss an der Seite der Mutter. Nun ist die Mutter tot und Ida weiß nicht, wie sie allein auftauchen kann. Ein schwarzer Wutklumpen zieht sie tiefer und tiefer in einen Strudel aus Schuldgefühlen, Trauer und Hoffnungslosigkeit.
„Bei ihr zu bleiben war keine Entscheidung oder bewusste Tat von meiner Seite. Es ging einfach nicht anders, Weggehen ging nicht.“ (70)

Sie flieht aus der kargen Wohnung, vor dem leeren Konto und den überlauten Gedanken an die Mutter. Irgendwann in den letzten Jahren hat sich auch etwas zwischen die Schwestern geschoben, so dass Ida nicht in Tildas heile Welt-Leben nach Hamburg reist, sondern ans Meer fährt.
Ida strandet auf Rügen. Sucht dort das Offene, die Weite und hofft, dass im rauen Nordwind all ihre lauten Gedanken und Zweifel leiser werden.
„Es ist, als hätte ich den Nebel mit mir genommen, und jetzt bekomme ich ihn nicht mehr raus. Entweder es ist totenstill, oder es kreischt im Kopf, nichts dazwischen.“ (94)

Gefunden und liebevoll durchgeschüttelt wird sie von Knut und Marianne. Und dann begegnet Ida auch Leif. Vielleicht ist Leif, der selbst verdächtig nah am Rand der Selbstzerstörung surft, derjenige, der Ida aus dem Wasser zieht? Aber will Ida überhaupt auftauchen?

Caroline Wahl hat ein gutes Gespür dafür, wo sie in ihren Romanen Brüche und Kanten einbaut, so dass die Geschichte und die Figurenbeziehungen nie in Klischeefallen oder rührselige Romantik abgleiten. Wie schon in ihrem Debütroman fängt die Autorin mit rotzig-charmantem Ton auch in WINDSTÄRKE 17 die aufbrausende und aufrüttelnde Lebenswelt ihrer Protagonistin ein. Schnelle Dialoge, die an ein Drehbuchskript erinnern, verleihen der Gesamthandlung Unmittelbarkeit und Situationskomik und wechseln sich mit Passagen ab, die Idas verletzliche Innenwelt zeigen.
Obwohl ich eher Team-Tilda bin, ist es Caroline Wahl gelungen, die Schwestern-Geschichte mit Fokus auf Ida fortzuschreiben - eine schmerzhaft-schöne Sommerlektüre!

Danke an den @dumontbuchverlag und @vorablesen für das Rezensionsexemplar!