Goldene Zwanziger?

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Golden sind die hier beschriebenen Zwanziger des Zwanzigsten Jahrhunderts nun wirklich nicht! Die Inflation galoppiert dahin im Berlin des Jahres 1923, und was das alles für Folgen hat, wird in diesem Roman von Johanna Friedrich sehr plastisch geschildert und kam mir, zumal selbst gebürtige Berlinerin, beim Lesen geradezu zum Greifen nah vor. Charlotte, um die 30, ist glücklich verheiratet mit dem Fotografen Albert. Trotz der schwierigen gesellschaftlichen Umstände scheint ihr Glück perfekt, als Charlotte endlich doch noch schwanger wird. Doch wenig später wird Albert tot aus dem Landwehrkanal gezogen. Die Polizei glaubt an Selbstmord, doch Charlotte ist der festen Überzeugung, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein muss. Hier war ich zunächst etwas ratlos, wohin sich das Buch entwickeln würde. Mir hätte es gar nicht so schlecht gefallen, wenn sich nun ein Kriminalfall entsponnen hätte. Doch nach und nach muss Charlotte einsehen, dass Albert unter tiefen Depressionen litt und wohl tatsächlich seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat. Die Indizien, die darauf hindeuten und sein tatsächliches Motiv und Verhalten sind für mich etwas blass und vage geblieben. Albert spielt auch im weiteren Verlauf der Handlung eine ganz untergeordnete Rolle. Charlotte muss sich und ihre Tohter über die Runden bringen. Deshalb vermietet sie die Zimmer ihrer Eigentumswohnung an ihren äußerst zwielichtigen jüngeren Bruder Gustav, dessen aus schlechten Verhältnissen stammenden Freund Heinrich, genannt "der Lange" und einen gepflegt und attraktiv wirkenden Herrn Theo von Baumgart. Diesen hat Gustav vermittelt, und Charlottes Bruder ahnt sehr wohl, dass hier Gefahr lauern könnte, denn für ihn ist Theo "der Pistolenmann". Zu dieser seltsamen Wohngemeinschaft stößt noch die alternde lesbische Bardame Claire. Lange Zeit leidet Charlotte unter ihrer veränderten Situation und wünscht sich ihren Ehemann zurück sowie eine richtige Familie. Doch schließlich entsteht hier fast so etwas wie eine Ersatzfamilie und Charlotte erkennt nach und nach, dass auch in ihrem Leben mit Albert vieles nur Schein war. Sie fühlt sich zu Theo hingezogen und dieser auch zu ihr. Dabei entgeht ihr, wie sehr sich auch der Lange in sie verliebt hat und wie dieser Theo immer mehr zu hassen beginnt. Charlotte will nun zunächst ihren eigenen Weg gehen. Da auch sie schon immer eine Leidenschaft für die Fotografie hegte, möchte sie ein Fotostudio eröffnen, was ihr schließlich unter vielen Schwierigkeiten durch die Hilfe von Claire und Theo auch gelingt. Bald schafft sie den Durchbruch, sie wird sehr bekannt und erfolgreich. Doch die Ereignisse spitzen sich zu, als Theo und Charlotte tatsächlich ein Paar werden und der Lange sich in seine Eifersucht hineinsteigert. Unglücklicherweise hat er sich einer Gruppe rechtsnationaler Gesinnungsgenossen angeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Charlotte noch nicht, dass Theo von Baumgart tatsächlich Aaron Birnbaum heißt und jüdischer Abstammung ist. Die Situation eskaliert, der Lange kommt ums Leben und Theo bzw. Aaron wird des Mordes und anderer Verbrechen angeklagt. Erneut muss Charlotte um ihr Glück kämpfen....
Irgendwie hat sich dieser Roman für mich jeglicher Klassifizierung entzogen, was ja nicht Schlechtes sein muss. Wie gesagt, am Anfang hoffte ich auf einen Krimi. Gesellschaftsroman, Frauenroman mit geschichtlichen Hintergrund... Das trifft es wohl einigermaßen. Ich habe das Buch gern gelesen, auch wenn ich die Protagonisten nicht völlig in mein Herz geschlossen und darum nicht sehr um sie gebangt habe. Dass ausgerechnet Aaron nun seine jüdische Herkunft dauerhaft verbergen wollte, um nicht mehr "der Jude" zu sein, war für mich nicht völlig nachvollziehbar, und Charlottes Nachsicht mit Gustav hat mir manchmal den Nerv geraubt. Doch die Geschichte ist sehr gut recherchiert und nicht zuletzt auch formuliert. Hier allerdings zwei Kritikpunkte, für andere vielleicht nicht der Rede wert, für mich als Autorin und daher selber Wortdrechslerin echte No gos: Die Autorin verwendet gern den Modeausdruck "einmal mehr", das sogar einmal auf einer Seite gleich doppelt. Diese Wiederholung sollte spätestens ein gutes Lektorat herausfiltern. Dann ist das ein Ausdruck, der sich erst im letzten Jahrzehnt unter jungen Übersetzern aus dem Englischen wie eine Pest ausgebreitet hat und nun anscheinend schon von deutschen Autoren übernommen wird. Wahrscheinlich war das ursprünglich eine direkte Übersetzung von once more, also ein versteckter Anglizismus. So hätte sich ein guter Autor früher nicht ausgedrückt, man hätte hier im Deutschen immer noch einmal oder erneut gesagt. In einem in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts spielenden Roman mit soviel Zeitkolorit wirkt dieser Modeausdruck unfreiwillig lächerlich. Ich habe darauf gewartet, dass nun noch jemand "nicht wirklich" sagt wie in schlechter Werbung.
Dann hat Charlottes Tochter, eben noch am 18. Oktober geboren, ihren ersten Geburtstag plötzlich an einen ganz anderen Oktobertag. Auch da sage ich nur Lektorat! Aber mehr habe ich an diesem lesenwerten Roman dann auch nicht zu meckern! Ich habe mich unwillkürlich gefragt, was aus den Protagonisten wohl nach der Machtergreifung Hitlers geworden ist...